SÄURE
Sabino.«
»Heute haben wir wieder den Lastwagen genommen«, sagte Melissa, »und auf alle heruntergeguckt.«
Ich fragte: »Wo ist Jacob?«
Sie zuckte die Achseln. »Er muß arbeiten.«
Auf die Erwähnung von Dutchys Namen hin straffte sich Hernandez.
Ich dankte ihm und erklärte, Melissa würde in fünfundvierzig Minuten fertig sein. Dann bemerkte ich allerdings, daß er keine Armbanduhr trug. »Setzen Sie sich, wenn Sie möchten«, schlug ich vor, »oder kommen Sie in fünfundvierzig Minuten wieder.«
»Okay.« Er blieb stehen.
Ich deutete auf einen Stuhl.
Er sagte »O.K.« und setzte sich, immer noch den Hut in der Hand.
Ich nahm Melissa mit in das Sprechzimmer.
Kaum hatte sie sich hingesetzt, fing sie auch schon an zu reden, ohne jedoch mich dabei anzusehen. An der Art, wie sie ihre Ängste in einem Singsang herunterrasselte, erkannte ich, daß sie sich intensiv auf die Therapie vorbereitet hatte. Sie schloß die Augen, während sie fortfuhr, und ihre Stimme wurde immer lauter, bis sie schließlich beinahe schrie. Dann hielt sie plötzlich inne, vor Angst zitternd, als hätte sie etwas Überwältigendes erblickt.
Aber bevor ich etwas sagen konnte, legte sie schon wieder los, indem sie wie ein Radio mit defektem Lautstärkeregler abwechselnd schrie und flüsterte:
»Monster…, große, böse Dinger.«
»Was für große, böse Dinger, Melissa?«
»Ich weiß nicht…, einfach böse Dinger.« Sie verstummte wieder, biß sich auf die Unterlippe und fing wieder an, hin und her zu schaukeln.
Ich legte ihr meine Hand auf die Schulter.
Sie schlug die Augen auf und sagte: »Ich weiß, daß es Einbildungen sind, aber ich habe trotzdem Angst vor ihnen.«
»Vor Einbildungen kann man ziemlich große Angst haben.« Ich sagte es mit sanfter Stimme, um sie zu beruhigen, aber sie hatte mich bereits in ihre Welt hineingezogen und sah selbst Bilder von schnatternden Ungeheuern mit Fangzähnen und Kapuzen, die schattenhaft in der nächtlichen Finsternis auflauerten; Falltüren, die beim Erlöschen des Lichts aufsprangen, Bäume, die sich in Hexen verwandelten, Gebüsche, die zu einem buckligen, schleimigen Verderben wurden, den Mond, der zu einem riesigen, gefräßigen Tier wurde. Die Kraft des Einfühlungsvermögens ließ Bilder und Erinnerungen an Nächte vor so langer Zeit aufsteigen, - ein Junge in einem Bett, der auf den Wind horcht, der über die Ebenen von Missouri peitscht…
Ich riß mich davon los und versuchte mich auf die Worte Melissas zu konzentrieren:
»… darum hasse ich es zu schlafen. Wenn ich einschlafe, kommen die Träume.«
»Was für Träume?«
Sie fröstelte wieder und schüttelte den Kopf. »Ich versuche, solange ich kann, wachzubleiben, aber dann kann ich nicht mehr und schlafe ein, und dann kommen die Träume.«
Ich nahm ihre Hand, um sie zu beruhigen. Sie wurde still.
Ich fragte: »Hast du jede Nacht böse Träume?«
»Ja, sogar mehrere. Mutter sagte, einmal wären es sieben gewesen.«
»Sieben böse Träume in einer Nacht?«
»Ja.«
»Erinnerst du dich an sie?«
Sie entzog mir ihre Hand, schloß die Augen und begann zu erzählen. Ihre Stimme klang nun nüchtern und sachlich. Sie spielte die Rolle einer siebenjährigen Psychologin, die in einer Konferenz vor Kollegen einen Fall vorträgt, den Fall eines namenlosen, kleinen Mädchens, das schweißgebadet am Schlafplatz zu Füßen des Bettes ihrer Mutter aufgewacht ist. Das Mädchen, das taumelnd mit Herzklopfen aufspringt und sich in der Bettdecke festkrallt, um nicht immer wieder in einen riesigen schwarzen Rachen zurückzufallen; das sich festkrallt, aber den Halt verliert; das in der Dunkelheit aufschreit und seinen kleinen Körper auf den warmen Leib der Mutter zurollt. Und der Arm der Mutter streckt sich instinktiv nach ihr aus und zieht sie an sich.
Das kleine Mädchen liegt da, starrt zur Decke empor, krampfhaft bemüht, sich einzureden, da oben sei nur die Zimmerdecke und die Dinge, die dort herumkriechen, entsprängen nur ihrer Einbildung. Sie überzeugt sich, ob Mutter wirklich tief schläft, um dann die Hand auszustrecken und Satin und Spitzen sowie ihren warmen Arm und schließlich ihr Gesicht zu berühren, die unbeschadete Hälfte - irgendwie landet es immer auf der unbeschadeten Gesichtshälfte.
Melissa fröstelte, als sie die »unbeschadete« Hälfte wiederholte. Sie öffnete ihre Augen und warf einen panikartigen Blick zum Seitenausgang, der auf den Korridor hinausführte - wie eine Gefangene, die die Chancen
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