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SÄURE

SÄURE

Titel: SÄURE Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Kellerman
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Schulter. Sie schüttelte meine Hand ab, und ihre Augen wurden feucht.
    Ich sagte: »Es tut mir leid, Melissa, ich wollte, es wäre…«
    Sie schoß wütend aus ihrem Sessel hoch und drohte mit erhobenem Finger: »Wenn es Ihre Arbeit ist, mir zu helfen, warum können Sie mir dann nicht jetzt helfen?« Sie stampfte mit dem Fuß auf.
    »Weil unsere Sitzungen zu einem bestimmten Zeitpunkt aufhören müssen.«
    »Warum?«
    »Ich glaube, du weißt, warum.«
    »Weil auch noch andere Kinder zu Ihnen kommen?«
    »Ja.«
    »Wie heißen die?«
    »Das kann ich dir nicht sagen, Melissa, erinnerst du dich?«
    »Wie kommt es, daß sie wichtiger sind als ich?«
    »Das sind sie nicht, Melissa. Du bist sehr wichtig für mich.«
    »Warum schicken Sie mich dann weg?«
    Bevor ich antworten konnte, brach sie in Tränen aus und rannte zur Türe zum Wartezimmer. Ich folgte ihr und verdonnerte insgeheim zum tausendsten Male die absolute Notwendigkeit der vorgeschriebenen Dreiviertelstunde, obwohl mir bewußt war, wie wichtig Schranken für jedes Kind waren.
    Als ich das Wartezimmer betrat, zerrte sie gerade an Hernandez Hand, weinte und bettelte unentwegt: »Komm, Sabino!« Er stand verängstigt da und wußte nicht, was er tun sollte. Als er mich erblickte, wurde aus seiner Unsicherheit Mißtrauen.
    Ich sagte: »Sie ist ein bißchen verärgert. Bitte, sagen Sie ihrer Mutter, sie soll mich so bald wie möglich anrufen.«
    Er blickte verständnislos.
    »Su madre«, sagte ich, »el telefono. Am Montagnachmittag um fünf machen wir weiter. Lünes, cinco.«
    »Okay«, er starrte mich an und quetschte seinen Hut zusammen.
    Melissa stampfte zweimal mit dem Fuß auf und sagte: »Nein, ich komme nie wieder her! Nie!« Sie zerrte wütend an der rauhen braunen Hand, während Hernandez dastand und mich immer noch prüfend ansah.
    Ich dachte an all die schützenden Hände, die dieses Kind umgaben, und wie wirkungslos sie alle waren. Ich sagte: »Auf Wiedersehen, Melissa, bis Montag.«
    »Nein!« Sie lief hinaus.
    Hernandez setzte den Hut auf und folgte ihr.
    Ich rief meinen Auftragsdienst an, als der Tag zu Ende war. Es war kein Anruf aus San Labrador gekommen.
    Ich überlegte, ob Hernandez wohl Bericht erstattet hatte, und bereitete mich auf eine Absage der Verabredung am Montag vor. Aber weder am Abend noch am nächsten Tag meldete sich jemand. Vielleicht ließen sie sich dem gemeinen Volk gegenüber nicht zu solchen Höflichkeiten herab.
    Schließlich rief ich bei den Dickinsons an. Beim dritten Läuten nahm Dutchy ab.
    »Hallo, Doktor«, meldete sich Dutchy stets mit derselben Förmlichkeit.
    »Ich rufe an, um Melissas Termin am Montag bei mir zu bestätigen.«
    »Montag«, sagte er, »ja, das habe ich notiert, fünf Uhr nachmittags. Richtig?«
    »Richtig.«
    »Geht es vielleicht nicht noch etwas früher? Der Verkehr von hier aus…«
    »Leider nicht, Mr. Dutchy.«
    »Also, um fünf dann. Vielen Dank für Ihren Anruf, Doktor, und einen schönen Abend…«
    »Sekunde«, sagte ich, »es gibt etwas, das Sie wissen sollten. Melissa hat sich gestern so aufgeregt, daß sie weinend die Praxis verlassen hat.«
    »Oh? Sie schien sehr gut aufgelegt, als sie nach Haus kam.«
    »Hat sie Ihnen nichts davon gesagt, daß sie am Montag nicht zu mir kommen will?«
    »Nein. Worum geht es denn, Doktor?«
    »Nichts Ernsthaftes. Sie wollte über das Ende der Dreiviertelstunde hinaus bleiben, und als ich ihr sagte, daß das nicht möglich wäre, brach sie in Tränen aus.«
    »Ich verstehe.«
    »Sie ist es gewöhnt, daß man sich nach ihr richtet, nicht wahr, Mr. Dutchy?« Schweigen.
    Ich sagte: »Ich erwähne es, weil das ein Teil ihres Problems sein kann, - sie kennt keine Schranken. Für ein Kind ist das so, als treibe es ohne Anker auf dem Ozean. Einige Veränderungen der grundlegenden Disziplin sind vielleicht angebracht.«
    »Doktor, es steht mir nicht zu, irgend…«
    »Natürlich, das hatte ich vergessen, verbinden Sie mich doch jetzt gleich einmal mit Mrs. Dickinson, und ich bespreche es mit ihr.«
    »Ich fürchte, Mrs. Dickinson ist indisponiert.«
    »Ich kann warten oder wieder anrufen, wenn Sie mir sagen, wann es ihr recht ist.«
    Er seufzte, »Doktor, bitte, ich kann keine Berge versetzen.«
    »Ich wüßte nicht, daß ich Sie gebeten hätte, das zu tun.«
    Schweigen. Räuspern.
    Ich fragte: »Ist es Ihnen möglich, eine Nachricht zu übermitteln?«
    »Gewiß.«
    »Sagen Sie Mrs. Dickinson, es ist eine unhaltbare Situation. Ich habe durchaus Verständnis für

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