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SÄURE

SÄURE

Titel: SÄURE Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Kellerman
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eines Ausbruchsversuchs abschätzt und den Mißerfolg voraussieht.
    Mich zu ihr vorbeugend lobte ich sie, sie hätte es gut gemacht, und wir könnten wieder den Rest der Stunde malen oder ein Spiel spielen.
    Sie aber fuhr fort: »Ich habe Angst vor meinem Zimmer.«
    »Weshalb?«
    »Es ist zu groß für mich.« Ein Ausdruck der Beschämung und Verwirrung flog über ihr Gesicht.
    Ich bat sie, mir mehr von ihrem Zimmer zu erzählen.
    Sie beschrieb: hohe Decke mit Bildern elegant gekleideter Damen, rosa Teppiche, die Tapeten ebenfalls rosa und grau mit Lämmchen und Kätzchen, die die Mutter eigens für sie ausgesucht hatte, als sie noch ein Baby war und in ihrem Kinderbettchen lag. Spielzeug, Spieldosen, winzige Tellerchen, Glasfigürchen, drei verschiedene Puppenstuben, ein Zoo mit Stofftieren, ein Himmelbett mit Kissen und einer flauschigen Daunensteppdecke; an den Fenstern Spitzengardinen. Die Rundfenster reichten fast bis zur Decke, und das Licht warf einem durch die farbigen Glasbilder bunte Bilder auf die Haut. Vor dem einen Fenster stand ein Sessel, von dem aus man einen herrlichen Blick auf die Wiese und die Blumen hatte, um die sich Sabino den ganzen Tag lang kümmerte. Sie verspürte stets den Wunsch, ihm ein Hallo zuzurufen, fürchtete sich jedoch, zu nahe an das Fenster heranzutreten.
    »Es klingt, als ob es ein riesiges Zimmer ist«, sagte ich.
    »Ich habe nicht nur ein Zimmer, sondern viele. Da gibt es ein Schlafzimmer, ein Badezimmer und gleich neben meinem Wandschrank ein Ankleidezimmer mit vielen Spiegeln und Lampen. Und ein Spielzimmer, wo die meisten meiner Spielsachen sind, aber die Stofftiere sind im Schlafzimmer, das Jacob das ›Kinderzimmer‹ nennt, da dort das Baby schläft.« Sie runzelte die Stirn.
    »Behandelt dich Jacob wie ein Baby?«
    »Nein, ich habe nicht mehr in einem Kinderbett gelegen, seit ich drei Jahre alt war!«
    »Freust du dich, daß du so ein großes Zimmer hast?«
    »Nein! Ich finde es schrecklich! Ich gehe da nie rein!« Sie setzte wieder diesen schuldbewußten Blick auf.
    Noch zwei Minuten, und die Dreiviertelstunde war um. Melissa hatte sich die ganze Zeit nicht in ihrem Sessel gerührt. Ich sagte: »Du machst das großartig, Melissa. Ich habe wirklich eine Menge erfahren. Aber wie wär’s, wenn wir jetzt Schluß machten?«
    Sie sagte: »Ich mag nicht allein sein, nie!«
    »Niemand mag alleine sein. Auch Erwachsene haben Angst davor.«
    »Ich mag es aber nie. Ich habe bis zu meinem siebten Geburtstag gewartet, erst dann bin ich alleine zur Toilette gegangen - mit geschlossener Tür und ganz privat.« Sie lehnte sich zurück und erwartete trotzig meine Mißbilligung.
    Ich fragte: »Wer ist mit dir gegangen, bis du sieben warst?«
    »Jacob und Mutter und Madeleine und Carmela haben mir Gesellschaft geleistet, bis ich vier war. Dann sagte Jacob, ich wäre eine junge Dame, nur Damen sollten bei mir sein, also ging er nicht mehr mit. Als ich sieben war, beschloß ich, alleine hinzugehen. Ich habe geweint und der Bauch hat mir weh getan, und einmal habe ich mich übergeben, aber ich habe es geschafft. Zuerst hab’ ich die Tür nur ein bißchen zugemacht und schließlich ganz, - aber ich schließe immer noch nicht ab. Nein!« Noch so ein trotziger Blick.
    Ich sagte: »Du hast das toll gemacht.«
    Stirnrunzeln. »Manchmal macht es mich immer noch nervös. Ich hätte immer noch gern jemanden dabei, derjenige braucht mich ja nicht anzugucken, sollte nur da sein und mir Gesellschaft leisten. Aber ich bitte niemand darum.«
    »Richtig«, sagte ich, »du hast gegen diese Angst angekämpft, und du hast sie besiegt.«
    »Ja«, sagte sie erstaunt, zum erstenmal schien sie die Nervenprobe als Sieg zu verstehen.
    »Haben dir Mutter und Jacob gesagt, daß du es gut gemacht hast?«
    »Hm«, sie machte eine wegwerfende Handbewegung, »sie sagen immer nette Sachen.«
    »Du hast es aber gut gemacht. Du hast einen harten Kampf gewonnen, das heißt, du kannst auch andere Kämpfe gewinnen und andere Ängste besiegen. Wir können zusammenarbeiten und planen, wie wir Schritt für Schritt gegen die Ängste kämpfen wollen. Wenn du möchtest, können wir das nächstemal anfangen, am Montag.« Ich stand auf.
    Sie blieb in ihrem Sessel sitzen. »Ich möchte noch ein bißchen reden.«
    »Das würde ich auch gern, Melissa, aber unsere Zeit ist um.«
    »Nur ein bißchen«, bettelte sie weinerlich.
    »Wir müssen jetzt wirklich aufhören, wir sehen uns am Montag, das sind nur…«
    Ich berührte ihre

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