SÄURE
schaute mit der Mißbilligung eines englischen Peers auf seinen Tee hinab, hob die Tasse schließlich an die Lippen, nippte und stellte sie rasch wieder hin.
»Nicht heiß genug?« fragte ich.
»Nein, er ist in Ordnung, Sir.«
»Wie lange arbeiten Sie schon für die Familie Dickinson?«
»Seit zwanzig Jahren.«
»Also schon lange vor dem Prozeß.«
Er nickte und hob die Tasse wieder hoch, ohne sie jedoch an die Lippen zu setzen. »Daß ich zum Geschworenen gewählt wurde, war ein Zufall, den ich zuerst nicht begrüßte. Ich wollte mich davon freistellen lassen, aber Mr. Dickinson wollte, daß ich mich zur Verfügung stellte. Er sagte, es sei meine staatsbürgerliche Pflicht. Er war ein Mann von staatsbürgerlicher Orientierung.« Seine Lippen zitterten.
»Wann ist er gestorben?«
»Vor siebeneinhalb Jahren.«
Überrascht sagte ich: »Bevor Melissa geboren wurde?«
»Mrs. Dickinson erwartete Melissa, als es -« er sah auf, erschrak und drehte den Kopf nach rechts. Der kohlrabenschwarze Kellner näherte sich uns aus dieser Richtung mit der schwarzen Tafel, gebieterisch, aber höflich im Ausdruck - Dutchys afrikanischer Vetter. Ich wählte das T-bone Steak, Woody rare, Dutchy bestellte Garnelensalat.
Als der Kellner fort war, fragte ich: »Wie alt war Mr. Dickinson, als er starb?«
»Zweiundsechzig.«
»Wie ist er gestorben?«
»Auf dem Tennisplatz.« Die Unterlippe zitterte ein wenig, aber sein übriges Gesicht blieb unbewegt. Er fummelte an seiner Teetasse herum und zog den Mund zusammen.
»Hatte die Tatsache, daß Sie als Geschworener dienten, irgendetwas damit zu tun, daß die beiden einander kennenlernten, Mr. Dutchy?«
Er nickte. »Das meinte ich mit Zufall. Mr. Dickinson kam mit mir ins Gericht. Er verfolgte den Prozeß vom Zuschauerraum aus und war von ihr verzaubert. Er hatte den Fall schon in der Zeitung verfolgt, bevor man mich in die Jury berief. Er hatte mehrmals bei der Lektüre der Morgenzeitung Bemerkungen über die Tragik der Geschichte von sich gegeben.«
»Hatte er Mrs. Dickinson bereits vor dem Attentat kennengelernt?«
»Nein, nicht im geringsten, sein Interesse war anfangs rein thematischer Natur. Er war ein guter Mensch.«
Ich sagte: »Ich bin nicht sicher, ob ich verstehe, was Sie mit ›thematisch‹ meinen.«
»Das Bedauern Über eine verlorene Schönheit«, sagte er wie ein Lehrer, der das Thema für einen Aufsatz bekanntgibt.
»Mr. Dickinson war ein großer Ästhet, ein Bewahrer, der einen großen Teil seines Lebens der Verschönerung seiner Welt gewidmet hatte. Daher bedauerte er sehr eine solche Herabwürdigung der Schönheit. Allerdings erlaubte es ihm sein Gewissen nie, dabei die Grenzen der Ethik zu überschreiten. Als man mich in die Jury gewählt hatte, begleitete er mich zum Beispiel zum Gericht, beide mußten wir peinlich genau darauf achten, nicht über diesen Fall zu sprechen. Er war ein Ehrenmann, Dr. Delaware. Diogenes hätte seine Freude an ihm gehabt.«
»Ein Ästhet«, wiederholte ich. »In was für einer Art von Geschäft war er denn tätig?«
Er schaute mich von oben herab an. »Ich spreche von Mr. Arthur Dickinson, Sir.«
Wieder einmal hatte ich keine Ahnung. Dieser Bursche hatte so eine Art, mir das Gefühl zu vermitteln, daß ich ein schrecklicher Banause war. Um mich nicht lächerlich zu machen, sagte ich: »Natürlich, der Philanthrop.«
Er starrte mich unverwandt an.
Ich fragte: »Wie haben die beiden sich denn kennengelernt?«
»Infolge des Gerichtsverfahrens intensivierte sich Mr. Dickinsons Interesse. Nachdem er ihre Zeugenaussage gehört und ihr bandagiertes Gesicht gesehen hatte, besuchte er sie im Krankenhaus. Wie der Zufall so spielte, hatte er soeben für den chirurgischen Flügel des Gebäudes, in dem sie untergebracht war, bedeutende finanzielle Mittel zur Verfügung gestellt. Er sprach mit den Ärzten und sorgte dafür, daß sie die allerbeste Behandlung bekam. Er zog eine Koryphäe auf dem Gebiet der plastischen Chirurgie, Professor Albano Montecino aus Brasilien, ein echtes Genie, hinzu. Der Mann hatte Pionierarbeit in der Wiederherstellung von Gesichtern geleistet. Mr. Dickinson sorgte dafür, daß man ihm exklusiv einen Operationssaal überließ.«
Schweiß glänzte auf Dutchys Stirn. Er zog ein Taschentuch heraus und tupfte ihn ab.
»Sie hatte solche Schmerzen«, sagte er und sah mir direkt ins Gesicht. »Siebzehn verschiedene Operationen, Doktor. Jemand mit Ihrer Ausbildung kann ermessen, was das bedeutet. Siebzehn
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