SÄURE
schüttelte den Kopf und lachte. »Ich habe sie überhaupt nicht akzeptiert. Ich hätte sie in eine Pflegerinnenschule gesteckt. Sie hat einen Monat lang in der Abteilung meiner Frau ausgeholfen. Visiten, didaktische Sitzungen und klinische Überwachung. Meine Frau erfuhr von ihrer sexuellen Pathologie und hat versucht, ihr zu helfen. So wie ich meiner Frau geholfen habe. Ich war von Anfang an dagegen, hatte das Gefühl, daß die Kuh sich nicht für unsere Technik eignete, hatte nicht genügend Motivation, nicht genügend Willenskraft. Ihre Fettleibigkeit allein hätte schon ausreichen sollen, sie zu disqualifizieren, - sie war verwahrlost. Aber meine Frau hatte ein viel zu gutes Herz. Und ich gab nach.«
»War sie Ihre erste Versuchsperson, nach Ursula?«
»Unsere erste Patientin - leider. Und wie ich vorausgesagt hatte, schnitt sie erbärmlich ab, was absolut nichts über unsere Technik besagt.« Er warf seiner Frau einen scharfen Blick zu. Mir war so, als ob ich einen Finger sich spannen sah.
»Ich würde einen Selbstmord auch ›erbärmlich abschneiden nennen.«
»Selbstmord?« Sein Lächeln kam langsam, beinahe träge. Er schüttelte den Kopf. »Eines müssen Sie wissen, die Kuh war unfähig, irgendetwas selbst zu tun.«
Würgegeräusche waren von Ursula zu hören.
Gabney sagte: »Es tut mir leid, meine Liebe, ich hab’s dir nie erzählt, nicht wahr?«
»In Harvard war man der Meinung, es wäre Selbstmord«, fuhr ich fort. »Irgendwie hat die medizinische Fakultät herausbekommen, was für eine Art Forschung Sie betrieben und Ihnen nahegelegt, die Universität zu verlassen.«
»Irgendwie«, wiederholte er und lächelte nicht mehr. »Die Kuh war ›Schriftstellerin‹, mit Tränenflecken verschmierte Liebesbriefe, die sie nie abgesandt hatte, in eine Schreibtischschublade gestopft. Ekelhaftes Zeug!« Er wanderte wieder zu seiner Frau hinüber, streichelte ihre Wange, küßte einen kahlgeschorenen Fleck auf ihrem Kopf. Ihre Augen waren fest zugekniffen, sie unternahm keinerlei Anstrengung, sich abzuwenden.
»Liebesbriefe an dich, Liebling«, säuselte er, »schwammig-weich, unzusammenhängend, von geringer Beweiskraft. Aber ich hatte Feinde in der Fakultät, und sie schlugen zu. Ich hätte kämpfen, mich dagegen wehren können, aber Harvard hatte mir nichts mehr zu bieten. Es ist wirklich nicht das, als was man es hochzujubeln versucht. War Zeit für einen Ortwechsel.«
»So kamen Sie nach Kalifornien«, erläuterte ich, »nach San Labrador, auf den Vorschlag Ihrer Frau hin, nicht wahr? ›Go West‹ - wegen der klinischen Möglichkeiten.«
In Gedanken schloß sich mir der Kreis: Möglichkeiten, die sich aus Ursulas Arbeit mit Eileen Wagner ergaben. Wissenschaftliche Beaufsichtigung verwandelte sich in Therapieversuche, wie es so oft vorkommt.
Eileen sprach über ihre Vergangenheit, ihre Bedürfnisse. Die sexuellen Konflikte, die sie veranlaßt hatten, von der Kinderheilkunde in die Psychiatrie überzuwechseln. Sie erzählte von ihren Erfahrungen mit einer betörenden Agoraphobikerin, einer böse zugerichteten, in einem Schloß versteckt lebenden Prinzessin, verkrüppelt von ihrer Angst, die sich schließlich auf ihre Tochter übertragen hatte, ein kleines Mädchen, das so bemerkenswert war, daß es von sich aus um Hilfe bat…
Das Gespräch von vor elf Jahren fiel mir ein; Eileen in ihren derb-praktischen Schuhen und der männlich wirkenden Bluse, die ihre Reisetasche von einer Hand in die andere wechselte:
Sie ist wirklich schön. Trotz der Narben - Süß. Auf eine verletzliche Art.
Klingt so, als ob Sie bei Ihrem kurzen Besuch eine Menge herausbekommen haben.
Eileens Wangen hatten sich gerötet. Man versucht sein Bestes.
Ihre Verlegenheit, die mir damals ein Rätsel blieb. Jetzt war mir alles so klar. Es hatte mehr als nur ein kurzer Besuch stattgefunden, viel mehr als nur eine ärztliche Konsultation.
Melissa hatte etwas Außerordentliches gespürt, ohne es ganz zu verstehen: Sie ist die Freundin meiner Mutter - Sie mag meine Mutter…
Jacob Dutchy hatte es auch gewußt, hatte Ginas Scheu mir gegenüber als allgemeine Angst vor Ärzten interpretiert. Ich hatte es in Frage gestellt: Aber sie hat doch Dr. Wagner empfangen.
Ja, das war eine Überraschung. Sie wird nicht gut mit Überraschungen fertig.
Wollen Sie sagen, daß sie abwehrend darauf reagiert hat, Dr. Wagner zu sprechen?
Sagen wir, es fiel ihr schwer.
Wäre es leichter für sie, mit einer Therapeutin zu sprechen?
Nein, absolut
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