SÄURE
schon, denn schon!«
Das verwirrte sie für einen Augenblick; dann korrigierte sie: »Ja natürlich, Alex.« Sie wies mich in ein Vestibül mit getäfelten Eichenholzwänden, das mir großzügig vorgekommen wäre, hätte ich nicht gerade einige Zeit im Dickinsonschen Herrenhaus zugebracht. Über die Wände verstreut hingen eine Reihe verschwommener kalifornischer Pleinair-Landschaften, die Art von Bildern, die die Galerien in Carmel vor etlichen Jahren als Meisterwerke an den Mann zu bringen versucht hatten.
Das Wohnzimmer befand sich linker Hand, man sah es durch die halboffenen hölzernen Schiebetüren. Auch dort Eichentäfelung, weitere Landschaften - Yosemite Park, Death Valley, die Küste von Monterey. Schwarzgepolsterte Stühle mit hohen Lehnen waren in einem Kreis aufgestellt. Die Fenster blieben hinter den Vorhängen verborgen. Das ehemalige Eßzimmer hatte man wohl als Wartezimmer hergerichtet mit Sofas, die nicht zueinander paßten, und Tischen, auf denen Zeitschriften lagen.
Sie war mir ein paar Schritte voraus, steuerte raschen Schrittes auf den rückwärtigen Teil des Hauses zu und führte mich in ein Zimmer, das wahrscheinlich einmal das des Dienstmädchens gewesen war: Eng und dunkel, mit einem Bürostuhl hinter einem Kiefernholzschreibtisch, Regale voll mit Fachbüchern. Diplome füllten die Wand. Das einzige Fenster verdeckte eine graue Jalousie.
Ein einziger Kunstgegenstand hing neben dem Bücherregal: eine Kaltnadelradierung von Mary Cassatt, in gedämpften Farben, Mutter und Kind. Gestern noch hatte ich ein weiteres Bild von derselben Künstlerin gesehen, in einem anderen einfachen, grauen Zimmer. - Therapeutische Beziehung in höchster Potenz?
Rätsel wie das von der Henne und dem Ei fielen mir ein.
Ursula Cunningham-Gabney begab sich hinter ihren Schreibtisch, setzte sich und kreuzte die Beine. Ihr Kleid rutschte hinauf. Sie ließ es, wie es war, setzte ihre Brille auf und starrte mich an. Sie fragte endlich: »Noch immer kein Zeichen von ihr?«
Ich schüttelte den Kopf.
Sie runzelte die Augenbrauen und schob die Brille höher die schmale, gerade Nase hinauf. »Sie sind jünger, als ich gedacht hatte.«
»Dito. Und Sie haben auch noch zweimal Ihren Doktor gemacht«, gab ich zurück.
»Es war nicht wirklich so bemerkenswert«, sagte sie. »Ich habe zwei Klassen in der Grundschule übersprungen, bin mit fünfzehn aufs College, dann mit neunzehn zum Studium nach Harvard. Dort war Leo Gabney Professor in meinem Hauptfach, und er hat mich hindurchdirigiert - hat mir geholfen, etwas von dem Nonsense zu vermeiden, über den andere stolpern. Ich habe beides, klinische Psychologie und Psychobiologie zum Hauptfach gewählt - die vormedizinischen Kurse hatte ich schon alle im College belegt. Also schlug Leo vor, ich solle Medizin studieren. Ich schrieb meine Forschungsdissertation während der ersten beiden Jahre, verband mein psychologisches mit meinem psychiatrischen Praktikum und bekam so am Ende die Zulassung auf beiden Gebieten.«
»Klingt ziemlich stressig.«
»Es war wundervoll«, sagte sie ohne die Spur eines Lächelns, »es waren wundervolle Jahre.« Sie nahm die Brille ab und legte beide Hände flach auf den Schreibtisch. »Also«, fragte sie, »wie sollen wir mit Mrs. Ramps Verschwinden vorgehen?«
»Ich dachte, Sie hätten eine Idee!«
»Ich möchte Sie darauf hinweisen, daß Sie sie in der letzten Zeit öfter gesehen haben als ich.«
»Ich dachte, Sie hätten sie jeden Tag gesehen.«
Sie schüttelte den Kopf. »Seit einiger Zeit nicht mehr. Wir hatten unsere individuellen Sitzungen auf zwei bis viermal die Woche reduziert, je nach ihren Bedürfnissen. Das letztemal habe ich sie am Dienstag gesehen, am Tag Ihres Anrufs. Es ging ihr sehr gut. Darum hielt ich es für akzeptabel, daß Sie sich mit ihr unterhielten. Was ist dann mit Melissa geschehen, daß sie sich so sehr erregt hat?«
»Ich wollte Melissa erklären, daß es ihrer Mutter gut ginge, daß sie ruhig nach Harvard abreisen könne. Melissa wurde wütend, lief aus dem Zimmer, und ihre Mutter bekam einen Angstanfall. Aber sie wurde damit fertig, - sie inhalierte etwas, das sie als ein Muskelrelaxans beschrieb, bis sie sich erholte.«
Sie nickte. »Tranquizon, es ist sehr vielversprechend. Mein Mann und ich gehören zu den ersten, die es klinisch anwenden. Der hauptsächliche Vorteil ist, daß es sehr gezielt eingesetzt werden kann, es wirkt direkt auf das sympathische Nervensystem ein und scheint den Thalamus oder das
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