SÄURE
ihr nach. Oder vielleicht war er es nicht selbst. Einmal hat er schon jemanden angeheuert, um sie zu verletzen, vielleicht hat er das wieder getan. Die Tatsache, daß er ein Alibi hat, ist meiner Ansicht nach ohne Bedeutung.
Was ist mit dem Mann, der damals das Attentat verübt hat - dem, den McCloskey bezahlt hat? Vielleicht ist er auch wieder in der Stadt.«
»Melvin Findlay«, sagte ich, »nicht der Mann, den ich mir für den Job aussuchen würde.«
»Was meinen Sie damit?«
»Ein Schwarzer, der ohne einen Grund in San Labrador herumfährt, würde das keine zwei Minuten lang tun. Und Findlay hat eine empfindliche Gefängnisstrafe für seine Tat abgesessen. Ich kann mir nicht recht vorstellen, daß er dumm genug wäre, das noch einmal zu machen.«
»Vielleicht«, sagte sie. »Ich hoffe, Sie haben recht. Aber ich habe das kriminelle Bewußtsein studiert und schon vor langer Zeit alle Vermutungen hinsichdich menschlicher Intelligenz aufgegeben.«
»Da Sie gerade von kriminellem Bewußtsein sprechen, hat Mrs. Ramp je gesagt, was McCloskey gegen sie hatte?«
Sie nahm die Brille ab, trommelte mit den Fingern auf die Tischplatte, nahm einen Fussel von ihrem Schreibtisch und schnippte ihn fort. »Nein, das hat sie nicht, weil sie es nicht wußte. Sie hatte keine Ahnung, weshalb er sie so sehr haßte. Es hat einmal eine romantische Beziehung zwischen ihnen gegeben, aber sie waren als Freunde auseinandergegangen. Sie war wirklich ratlos, dadurch wurde für sie ja alles noch schwieriger - weil sie es nicht verstand. Ich habe lange mit ihr daran gearbeitet.«
Sie trommelte erneut. »Das ist völlig uncharakteristisch für sie. Sie war immer eine gute Patientin, ist niemals vom Plan abgewichen. Selbst wenn es nichts weiter als eine Autopanne ist, sehe ich sie irgendwo gestrandet, bekommt Panik und weiß nicht mehr, was sie tut.«
»Trägt sie ihr Medikament bei sich?«
»Sie sollte es tun, und ich habe ihr gesagt, daß sie ihr Tranquizon immer bei sich haben muß.«
»Soweit ich gesehen habe, weiß sie damit umzugehen.«
Sie starrte mich an, lächelte mit aufeinandergepreßten Lippen, so daß die Haut über ihrem Kinn sich spannte. »Sie sind ein ziemlicher Optimist, Dr. Delaware.«
Ich lächelte zurück. »So stehe ich die Nacht durch.«
Ihr Gesicht nahm einen sanfteren Ausdruck an. Einen Augenblick lang dachte ich, sie würde mich anlächeln und mir ihre Zähne zeigen. Aber dann zog sie eine Grimasse und erklärte: »Entschuldigen Sie mich, ich habe wirklich das Gefühl, daß noch etwas zu tun ist. Muß ich gleich erledigen.«
Sie griff nach dem Telefon, drückte 911. Als die Vermittlung sich meldete, stellte sie sich als Gina Ramps Ärztin vor und bat darum, mit dem Polizeichef verbunden zu werden.
Während sie wartete, sagte ich: »Er heißt Chickering.«
Sie nickte, hielt einen Zeigefinger hoch und sagte: »Chief Chickering? Hier spricht Dr. Ursula Cunningham-Gabney, Gina Ramps Ärztin - Nein, habe ich nicht - nichts - Ja, natürlich - Ja, das hat sie. Heute nachmittag um drei - Nein, hat sie nicht, und ich habe nicht - Nein, es gibt nichts, nein, nicht im mindesten.« Ein verzweifelter Blick. »Chief Chickering, ich versichere Ihnen, sie war im vollen Besitz ihres Verstandes. Absolut, nein, überhaupt nicht - Ich habe nicht das Gefühl, daß das klug oder notwendig wäre - Nein, ich versichere Ihnen, sie war völlig klar im Kopf - Ja. Ja, ich verstehe - Entschuldigen Sie, Sir, es gibt da noch etwas, das Sie in Betracht ziehen sollten, dachte ich. Der Mann, der das Attentat auf sie verübt hat - Nein, der nicht, der andere, der die Salzsäure geworfen hat, Findlay, Melvin Findlay - hat man ihn gefunden? - Oh! Oh, ich verstehe, ja, natürlich. Vielen Dank, Chief.«
Sie legte auf und schüttelte den Kopf. »Findlay ist tot, ist vor mehreren Jahren im Gefängnis verstorben. Chickering war gekränkt, daß ich überhaupt gefragt habe, scheint anzunehmen, daß ich seine beruflichen Fähigkeiten in Zweifel ziehe.«
»Es klang, als bezweifle er Ginas geistige Stabilität.« Sie warf mir einen angewiderten Blick zu. »Er wollte wissen, ob sie ›ganz da‹ wäre, wie finden Sie so eine Ausdrucksweise?« Rollte die Augen. »Ich glaube, er wollte sogar von mir hören, daß sie verrückt wäre, als ob das dann ihr Verschwinden rechtfertigen würde.«
»Dann wäre es eine Rechtfertigung, wenn er sie nicht findet«, sagte ich. »Wer kann für die Handlungen einer Verrückten verantwortlich sein?«
Sie zwinkerte
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