SÄURE
beiden krankhaft ist.«
»Vielleicht, aber Melissa hat diese Beziehung nicht erfunden, sie ist hineingeboren, warum also dem Opfer Vorwürfe machen?«
»Ich versichere Ihnen…«
»Ich sehe auch nicht ein, weshalb Sie das Verschwinden dem Mutter-Tochter-Konflikt zuschreiben. Gina Ramp hat sich bisher nie von Melissa in ihrer Pathologie beeinflussen lassen.«
Sie rollte ihren Stuhl mehrere Zentimeter rückwärts, ohne den Augenkontakt abzubrechen. »Wer macht dem Opfer Vorwürfe?«
»Also gut«, sagte ich, »das war unproduktiv.«
»Nein, das war es nicht. Haben Sie noch andere Informationen für mich?«
»Ich nehme an, der Umstand, der zu der Phobie geführt hat, das Salzsäureattentat, ist Ihnen bekannt.«
Sie bewegte kaum die Lippen, während sie sagte: »Ihre Annahme ist zutreffend.«
»Der Mann, der das getan hat, Joel McCloskey, ist wieder in Los Angeles.«
Ihr Mund formte ein O, kein Ton kam heraus. Sie preßte die Knie zusammen.
»Oh, verdammt«, sagte sie, »wann ist das passiert?«
»Vor sechs Monaten, aber er hat die Familie nicht angerufen oder drangsaliert. Es gibt keinerlei Hinweise darauf, daß er irgend etwas damit zu tun hat. Die Polizei hat ihn verhört, und er hatte ein Alibi, also haben sie ihn wieder laufen lassen. Und wenn er Ärger hätte machen wollen, hätte er reichlich Zeit dazu gehabt - er ist seit sechs Jahren aus dem Gefängnis heraus. Hat sich niemals mit ihr oder jemand anderem in der Familie in Verbindung gesetzt.«
»Seit sechs Jahren!«
»Sechs Jahre seit seiner Entlassung aus dem Gefängnis. Er hat die meiste Zeit außerhalb von Kalifornien verbracht.«
»Sie hat das niemals erwähnt.«
»Sie wußte es nicht.«
»Woher wissen Sie es denn?«
»Melissa hat es vor kurzem herausbekommen und mir erzählt.«
Ihre Nasenflügel blähten sich. »Und sie hat es ihrer Mutter nicht gesagt?«
»Sie wollte sie nicht beunruhigen, wollte einen Privatdetektiv beauftragen, der sich diesen McCloskey ansieht.«
»Das ist ja herrlich, einfach herrlich!« Sie schüttelte den Kopf. »In Anbetracht dessen, was nun geschehen ist, geben Sie ihr da recht?«
»Damals schien es mir vernünftig, Mrs. Ramp nicht zu traumatisieren. Wenn der Detektiv festgestellt hätte, daß von McCloskey eine Gefahr ausging, hätte er es ihr gesagt.«
»Wie hat Melissa herausbekommen, daß McCloskey wieder da ist?«
Ich wiederholte, was man mir erzählt hatte.
Sie sagte: »Unglaublich. Also, das Kind hat Initiative, das gestehe ich ihr zu. Aber die Art und Weise, sich in Sachen einzumischen…«
»Sie hat angerufen, weil sie das für richtig hielt. Und es steht keineswegs fest, daß das falsch war. Können Sie mit Sicherheit sagen, daß Sie es Mrs. Ramp erzählt hätten?«
»Es wäre schön gewesen, wenn man die Wahl gehabt hätte.« Sie sah eher verletzt als ärgerlich aus.
Ein Teil in mir wollte sie um Entschuldigung bitten, ein anderer hätte ihr gern eine Predigt über die richtige Kommunikation mit der Familie des Patienten gehalten.
Sie sagte: »Ich habe die ganze Zeit daran gearbeitet, ihr zu zeigen, daß die Welt für sie ein sicherer Ort ist, und genau dann läuft er da draußen frei herum.«
Ich sagte: »Sehen Sie, es gibt wirklich gar keinen Grund zu der Annahme, daß etwas Schreckliches geschehen ist. Es kann sein, daß der Wagen gestreikt hat oder daß sie beschlossen hat, ihre neugewonnene Freiheit zu nutzen. Schließlich hat sie sich entschieden, selbst hierherzufahren, und das zeigt ja vielleicht, daß sie sich allein umtun wollte.«
»Daß dieser Mann wieder da ist, macht Ihnen überhaupt keine Sorge? Die Möglichkeit, daß er seit sechs Monaten auf sie lauert?«
»Sie sind oft in dem Haus gewesen. Wenn Sie mit ihr um den Block spaziert sind, haben Sie ihn oder irgendwen sonst dann je bemerkt?«
»Nein, aber wie sollte ich denn auch? Ich habe mich ganz auf sie konzentriert.«
»Trotzdem«, sagte ich, »San Labrador ist kein Ort, wo Sie jemandem auflauern könnten, ohne daß es bemerkt würde. Keine Fußgänger, keine Autos, da fallen Eindringlinge sofort auf, das ist ja auch so beabsichtigt. Und die Polizei ist eine private Wachmannschaft, speziell darauf gedrillt aufzupassen, daß keine fremde Person unbemerkt bleibt.«
»Zugegeben«, sagte sie, »aber was ist, wenn er nicht herumgesessen hat und sich verdächtig gemacht hat? Was ist, wenn er nur herumgefahren ist, nicht jeden Tag, nur dann und wann? Und heute hatte er Erfolg - sah, wie sie allein von zu Haus wegfuhr, und fuhr
Weitere Kostenlose Bücher