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SÄURE

SÄURE

Titel: SÄURE Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Kellerman
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wieder mehrmals, sah hinab auf die Schreibtischplatte und ließ die ganze Strenge von ihrem Gesicht abfallen. Ihre Schönheit mußte spät erblüht sein. Ich malte mir in Gedanken ein kurzsichtiges kleines Mädchen aus, das, klüger als ihre Altersgenossinnen, unfähig, Freunde zu finden, in ihrem Zimmer saß, las und sich fragte, ob sie je irgendwo hineinpassen würde.
    »Wir sind verantwortlich«, hörte ich sie sagen. »Wir haben die Verantwortung übernommen, für sie zu sorgen. Und hier sitzen wir und schaffen es nicht.« Die Enttäuschung war in ihrem Gesicht geschrieben. Mein Blick schweifte von ihrem Gesicht hinüber zu dem Bild von Mary Cassatt.
    Sie bemerkte es, und ihre Nervosität schien noch zuzunehmen. »Wunderschön, nicht wahr?«
    »Ja, das ist es.«
    »Die Cassatt war ein Genie. Dieser Ausdruck, vor allem wie sie das Wesentliche eines Kindes herausgebracht hat.«
    »Ich habe gehört, sie mochte keine Kinder.«
    »Oh, wirklich?«
    »Haben Sie den Druck schon lange?«
    »Schon eine Weile.« Sie berührte ihre Frisur, ein weiteres Lächeln mit geschlossenem Mund. »Sie sind doch nicht hergekommen, um über Kunst zu diskutieren. Kann ich sonst noch etwas für Sie tun?«
    »Fallen Ihnen noch andere psychologische Faktoren ein, die Ginas Verschwinden erklären könnten?«
    »Zum Beispiel?«
    »Dissoziative Perioden - Amnesie, Fugue. Könnte sie eine Art ›Schub‹ gehabt haben, irrt jetzt da draußen herum und weiß nicht mehr, wer sie ist?«
    Sie dachte eine Weile nach. »Es gibt nichts dergleichen in ihrer Geschichte. Ihr Ego war intakt - erstaunlich sogar, wenn man bedenkt, was sie durchgemacht hat. Ja, ich habe sie immer für eine der rationalsten Agoraphobikerinnen gehalten. Was den Ursprung ihrer Symptome angeht - bei manchen von ihnen erfährt man nie, wie es angefangen hat, da es kein Trauma gibt, auf das man hinweisen könnte. Aber in ihrem Fall manifestierten sich die Symptome im Gefolge einer ungeheuren körperlichen und emotionalen Streßsituation: mehrfache Operationen, ausgedehnte Perioden, die sie im Bett verbringen mußte, damit ihr Gesicht abheilen konnte - medizinisch verschriebene Agoraphobie, wenn Sie so wollen! Verbinden Sie das mit der Tatsache, daß das Attentat in dem Augenblick stattfand, als sie aus dem Haus trat. Und es wäre beinahe irrational von ihr, wenn sie sich nicht so verhalten hätte, wie sie es getan hat. Vielleicht sogar in einem biologischen Sinn - neueste Forschungsergebnisse zeigen ja, daß sich nach traumatischen Ereignissen tatsächlich strukturelle Veränderungen im Mittelhirn abspielen.«
    »Es ergibt einen Sinn«, sagte ich. »Ich nehme an, daß wir nicht einmal erfahren werden, was geschehen ist, wenn sie wieder auftaucht.«
    »Wie meinen Sie das?«
    »Das Leben, das sie führt - die Zurückgezogenheit. Auf ihre Art ist sie ziemlich zufrieden so allein. Das kann bei einem Menschen dazu führen, daß er Geheimnisse hat, sogar darin schwelgt. Damals bei der Behandlung Melissas hatte ich den Eindruck, daß Geheimnisse für diese Familie das Zahlungsmittel überhaupt wären. Und ein Außenseiter würde nie wirklich erfahren, was da vor sich geht. Gina hat sich vielleicht einen ziemlich großen Schatz von solchen Zahlungsmitteln angelegt.«
    »Das ist das Ziel der Therapie«, sagte sie, »diese Schatzkammern zu öffnen. Ihr Fortschritt ist bemerkenswert gewesen.«
    »Sicher, ich sage ja nur, daß sie vielleicht immer noch der Meinung ist, sie sollte einen Schatz für sich behalten.«
    Sie verzog angespannt ihr Gesicht. »Ich nehme an, Sie haben recht. Wir behalten alle etwas für uns, nicht wahr? Die privaten Gärten, die wir wässern und pflegen.« Sie wandte sich von mir ab. »Gärten übervoll von eisernen Blumen, eisernen Wurzeln, Stielen und Blütenblättern, eine paranoide Schizophrene hat mir das einmal erzählt, und ich glaube, daß es ein passendes Bild ist. Nicht einmal das tiefste Sondieren kann eiserne Blumen entwurzeln, wenn sie nicht ausgegraben werden wollen, nicht wahr?« Sie sah mich wieder an, wie verletzt.
    »Nein, das kann es nicht«, sagte ich. »Aber wenn sie sie doch ausgräbt, dann wird sie Ihnen den Blumenstrauß überreichen.«
    Sie lächelte schwach: »Ist das gönnerhaft gemeint, Dr. Delaware?«
    »Nein, wenn es so klingt, tut es mir leid, Dr. Cunnignham-Bindestrich-Gabney.«
    Das pumpte ein bißchen Kraft in ihr Lächeln.
    Ich fragte: »Was ist mit den Mitgliedern ihrer Gruppe? Wissen die vielleicht etwas, das von Nutzen sein

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