Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
SÄURE

SÄURE

Titel: SÄURE Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Kellerman
Vom Netzwerk:
Sein Hemd bauschte sich um ihn herum. »Es ist die Luft«, sagte er zwischen Kaubewegungen, »die mich in Wirklichkeit da hinauflockt. Leider bekommt sie meiner Frau nicht, Allergien: Pferde, Gräser, Baumpollen, alles Mögliche, was ihr drüben in Boston nie etwas ausgemacht hatte. Also konzentriert sie sich auf die klinische Arbeit und läßt mich frei experimentieren.«
    Es war nicht die Unterhaltung, die ich mir mit dem großen Leo Gabney vorgestellt hatte, damals, als ich in der Tat noch solchen Vorstellungen gefrönt hatte. Ich wußte nicht, warum er mich zu sich gebeten hatte.
    Vielleicht spürte er das, denn er sagte: »Alex Delaware. Ich habe all Ihre Arbeiten verfolgt, nicht nur die Schlafstudien, Multimodale Behandlung selbstzerstörerischer Obsessionen von Kindern, Die psychosozialen Aspekte von chronischen Erkrankungen und langen Hospitalisationen von Kindern, Krankheitsbezogene Kommunikation und die Bewältigung durch die Familie, et cetera. Eine solide Leistung, sauber geschrieben.«
    »Danke.«
    »Sie haben seit mehreren Jahren nichts mehr veröffentlicht.«
    »Ich arbeite gerade wieder an etwas. Die meiste Zeit war ich mit anderen Sachen befaßt.«
    »Mit Ihrer privaten Praxis?«
    »Forensischer Tätigkeit.«
    »Was für einer forensischen Tätigkeit?«
    »Traumata und Verletzungen, einige Sorgerechtsfälle.«
    »Üble Sache, solche Vormundschaftssachen. Was halten Sie vom gemeinsamen Sorgerecht?«
    »Es kann in manchen Fällen funktionieren.«
    Er lächelte. »Sie drücken sich vorsichtig aus. Ich nehme an, das gewöhnt man sich an, wenn man mit Gerichten zu tun hat. Eigentlich sollte man die Eltern sehr stark motivieren, damit es funktioniert. Wenn sie immer wieder versagen, sollte man dem Elternteil mit der besten Eignung das Sorgerecht übertragen, ohne Rücksicht auf das Geschlecht. Sind Sie nicht auch dieser Meinung?«
    »Ich denke, das Interesse des Kindes ist es, worauf es ankommt.«
    »Das denken alle, Doktor. Wie setzt man diese guten Absichten aber in die Wirklichkeit um? Wenn es nach mir ginge, würde keine Entscheidung über das Sorgerecht getroffen, bevor nicht ein geübter Beobachter mehrere Wochen in der Familie gelebt, an Hand strukturierter, gültiger und zuverlässiger Verhaltensmaßstäbe sorgfältige Aufzeichnungen angefertigt und deren Ergebnisse einem Gremium von psychologischen Spezialisten vorgetragen hätte. Was halten Sie von dieser Idee?«
    »Klingt gut, theoretisch, aber praktisch…«
    »Nein, nein«, sagte er wütend kauend, »ich spreche von praktischer Erfahrung. Meine erste Frau hat mich mit gesetzlichen Mitteln zu ermorden versucht - das ist Jahre her, als die Gerichte sich nicht einmal anhören wollten, was der Vater zu sagen hatte. Sie trank und rauchte und war durch und durch unzuverlässig. Aber für den Idioten von Richter, der mit dem Fall befaßt war, war der entscheidende Punkt, daß sie Eierstöcke hatte. Er übergab ihr alles - mein Haus, meinen Sohn, sechzig Prozent des armseligen Eigentums, das ich als Privatdozent angesammelt hatte. Ein Jahr darauf hat sie stockbetrunken im Bett geraucht. Das Haus brannte nieder, und ich habe meinen Sohn für immer verloren.«
    Er sagte es sachlich-nüchtern, seine Baßstimme klang so gefühllos wie ein Nebelhorn.
    Er stemmte die Ellbogen auf den Schreibtisch, legte die Fingerspitzen beider Hände zusammen und schuf so einen rhombenförmigen Raum, durch den er hindurchschaute.
    Ich sagte: »Tut mir leid.«
    »Es war eine schreckliche Zeit für mich.« Er kaute langsam. »Eine Zeitlang kam es mir vor, als würde mich nichts wieder motivieren können. Aber schließlich habe ich Ursula kennengelernt, also nehme ich an, daß man von einem Silberstreifen sprechen kann.« Gier in den blauen Augen, unmißverständliche Leidenschaft.
    Mir fiel ein, wie sie ihm gehorcht hatte, wie er ihren Hintern angesehen hatte. Ich fragte mich, ob es ihre besondere Fähigkeit war, Frau und Kind gleichzeitig zu sein, die ihn reizte.
    Er ließ die Hände sinken. »Bald nach der Tragödie habe ich wieder geheiratet - vor Ursula. Ein weiteres Fehlurteil, aber wenigstens waren keine Kinder da. Als ich Ursula kennenlernte, war sie mit dem College fertig und bewarb sich um einen Studienplatz an der Fakultät. Ich war zu der Zeit Ordinarius sowohl an der medizinischen Fakultät als auch der erste stellvertretende Dekan ohne medizinischen Doktor, den die medizinische Fakultät je ernannt hat. Ich sah, was in ihr steckte, und half ihr, es zu

Weitere Kostenlose Bücher