Sag, es tut dir leid: Psychothriller (German Edition)
und Zeigefinger gegen seine Stirn. »Meine Frau hat vor einigen Jahren einen Selbstmordversuch unternommen. Es kam im Grunde nicht überraschend. Amanda war alkohol- und medikamentenabhängig, vor allem von Schmerzmitteln. Sie hat sich nicht mehr wie ein verantwortungsbewusster Erwachsener benommen, deswegen habe ich das alleinige Sorgerecht beantragt.«
»Sie hat Einspruch eingelegt?«
»Ja, aber der gesunde Menschenverstand hat gesiegt.«
»Wann hat sie versucht, sich umzubringen, davor oder danach?«
Sein Lächeln ist längst verblasst. »Diese Frage ist mir unangenehm.«
»Verzeihen Sie. Das ist falsch herausgekommen.«
»Das bezweifle ich, Professor. Sie machen auf mich nicht den Eindruck eines Menschen, der etwas Unüberlegtes sagt.«
»Sie haben einen amerikanischen Akzent«, wechsele ich das Thema.
»Ich habe sieben Jahre dort gearbeitet. Amanda hat sich nie richtig eingelebt, und ihr Alkoholproblem wurde schlimmer. Eines Tages kam ich nach Hause, und Emily und sie saßen auf gepackten Koffern für die Rückreise nach England.«
»Sie sind ihnen gefolgt.«
»Nicht sofort. Meine Arbeit war zu wichtig.«
»Das war sicher schwer, so weit weg von Emily zu sein.«
»Ich habe versucht, sie zu sehen, wann immer ich konnte. Amanda erlaubte nicht, dass Emily allein in die Staaten flog. Am Ende habe ich alles aufgegeben – mein Forschungsprojekt und die Finanzierung – und bin zurückgekommen.«
Die Züge fahren nach wie vor blinkend und pfeifend im Kreis herum.
»Ich habe es für Emily getan, weil ich gesehen habe, was los war. Amanda hat mehr denn je getrunken. Eine Zeitlang ist sie zu AA -Treffen gegangen, jedoch immer wieder rückfällig geworden. Sie war ohnehin von Natur aus launisch und überreizt, doch inzwischen war sie regelrecht destruktiv geworden. Sie hat Tabletten geschluckt, ist ohnmächtig geworden. Zwei Mal konnte Emily sie nicht wieder wecken und musste den Krankenwagen rufen. Deswegen habe ich um Emily gekämpft und nicht aufgegeben, bis ich sie zurückgewonnen hatte.«
»Das hört sich an, als wäre sie eine Trophäe.«
Er wirft mir einen absolut nichtssagenden Blick zu. »Jedes Kind ist ein Geschenk.«
»Ihre Tochter wollte weglaufen.«
»Wir haben eine Weile gebraucht, um uns gegenseitig kennenzulernen. Und das ging nicht ohne Holpern.«
»Holpern?«
»Amanda hatte einen Rückfall und wurde in die Psychiatrie eingeliefert. Emily hat mir die Schuld gegeben.«
»Wieso?«
»Ich weiß es nicht. Das müssen Sie sie selbst fragen. Dass Amanda ins Krankenhaus kam, war wahrscheinlich der Grund, warum Emily geblieben ist. Sie hat ihre Mum jeden Tag besucht, und in der Zwischenzeit haben wir uns aneinander gewöhnt. Es wurde leichter … sie hat die Regeln begriffen.«
»Die Regeln?«
»Das Übliche – kein Alkohol, keine Zigaretten, keine Drogen, kein Junk Food, nicht zu lange wegbleiben … Sie hatte erhebliches Übergewicht, und ihre Noten waren katastrophal. All das hat sich verändert, seit ich die Verantwortung übernommen habe.«
»Sie war in der Pubertät.«
»Genau. Man sollte Teenager nicht wie Erwachsene behandeln. Dazu fehlt ihnen die emotionale und intellektuelle Reife. Das ist die eine Hälfte des Problems in diesem Land – fehlende Aufsicht, Kinder, die allein auf der Straße herumstreunen. Schauen Sie sich die Krawalle in London an. Jugendliche haben Schaufenster eingeschlagen, Autos demoliert und Flachbildfernseher geklaut, aus reiner Langeweile und weil sie zu Hause keine Vorbilder haben.«
»Was ist die andere Hälfte?«
»Verzeihung?«
»Sie sagten, Kinder seien die eine Hälfte des Problems in diesem Land.«
Er bremst sich und sagt entschuldigend: »Da haben Sie mich bei meinem Steckenpferd erwischt.«
»Modelleisenbahnen sind wahrscheinlich ein netteres Steckenpferd«, sage ich und will raus, um andere Luft zu atmen.
Er sieht mich mit einem nebulösen Lächeln an. »Ich spüre, dass Sie meine Methoden missbilligen, Professor, aber meine Tochter liebt mich. Ich bin bloß froh, dass sie nicht mit diesen Mädchen gegangen ist. Vielleicht wäre sie sonst auch entführt worden. Haben Sie Kinder?«
»Zwei Töchter.«
»Es ist schwierig … Kinder großzuziehen. Die Welt wird jeden Tag komplizierter. Informationen aus Zeitschriften, Fern sehserien, dem Internet, sozialen Netzwerken und Twitter prasseln auf die jungen Menschen ein. Wir müssen uns über Cyber-Pornografie, Cyber-Mobbing und virtuelle Annäherungsversuche von Perversen Sorgen machen. Und
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