Sag, es tut dir leid: Psychothriller (German Edition)
verheiratet?«
»Getrennt. Seit drei Jahren. Zwei Töchter. Fünfzehn und sieben. Sie leben bei ihrer Mutter, aber ich sehe sie ziemlich häufig; allerdings nicht mehr so oft, seit ich in London wohne.«
»Hm.«
»Was?«
»Interessant.«
»Was?«
»Ich habe eine einfache Frage gestellt, und Sie haben mir Ihr ganzes Leben erzählt – alles bis auf Ihre Lieblingsfarbe.«
»Blau.«
»Wie bitte?«
»Meine Lieblingsfarbe ist blau.«
Ich werfe einen Blick in die Speisekarte. Victoria bestellt die Suppe. Ich tue das Gleiche. Eine schreckliche Wahl. Mein linker Arm zittert.
Ich wechsele das Thema und frage sie nach ihrer Praxis. Sie wohnt in West London, fährt jedoch zwei Mal pro Woche nach Oxford und arbeitet hauptsächlich für den National Health Service.
»Wie sind Sie an Augie Shaw geraten?«
»Er ist vor zwei Jahren auf die Polizeiwache gekommen und hat gestanden, eine Frau vergewaltigt zu haben, doch das war völlig unhaltbar.«
»Sie wollte ihn nicht anzeigen?«
»Sie hatte ihn noch nie in ihrem Leben gesehen. Augie hatte Fantasien, eine Frau zu vergewaltigen. Ich glaube, er hat ehrlich geglaubt, es getan zu haben. Er war beschämt. Geschockt. Wütend auf sich selbst.«
»Sie haben ihn rechtzeitig gestoppt.«
»Er hat sich selbst gestoppt.« Sie streicht mit einem Finger über den Rand ihres Glases. »Zum Ende seiner Teenagerzeit bekam Augie Probleme. Akustische Halluzinationen. Blackouts. Desorientierung. Chronische Kopfschmerzen. Schlaflosigkeit. Er behauptete, jedes Mal wenn er eine wichtige Entscheidung treffen musste, widersprüchliche Botschaften zu empfangen.«
»Botschaften?«
»Von seinem Zwillingsbruder.«
»Drury sagt, er hat keinen Bruder.«
»Sein Zwilling ist bei der Geburt gestorben, doch Augie glaubt, er wäre noch immer mit der Seele seines Bruders verbunden. Er sagt, es sei, als wäre sein Zwilling in ihm gefangen und würde nicht weggehen.«
»Paranoide Schizophrenie.«
»Wahnvorstellungen – zum Teil größenwahnsinnig, zum Teil paranoid.«
»Medikation?«
»Neuroleptika: fünfzehn Milligramm Olanzapin und Schlaftabletten. Während unserer Sitzungen habe ich versucht, Augie zu bewegen, die Nabelschnur mental zu trennen, aber er hat starke Widerstände. Er glaubt, die Hälfte seiner Persönlichkeit würde verschwinden, wenn er den Kontakt zu seinem Bruder verliert.«
»Sie erwähnten Klaustrophobie?«
»Augies Vater hat ihn als Junge immer in den Schrank gesperrt. Er leidet unter Albträumen. Er hasst beengte Räume. Außerdem glaubt er, die Luft in geschlossenen Räumen wäre giftig, deshalb wäre sein Bruder im Mutterleib gestorben.«
»Sie sagten, er sei bisher nicht als gewalttätig aufgefallen.«
»So ist es.«
»Er hatte Fantasien, eine Frau zu vergewaltigen.«
»Er litt unter Wahnvorstellungen.«
»Er wurde von den Heymans entlassen, weil er die Unterwäsche ihrer Tochter durchwühlt hat.«
»Augie sagt, es war ein Missverständnis.«
»Seine Fingerabdrücke waren überall am Tatort. Seine Hände waren verbrannt. Er hat das Feuer nicht gemeldet. Stattdessen ist er nach Hause gegangen und hat sich schlafen gelegt.«
Sie hat die Augen zusammengekniffen. »Er hat Panik bekommen.«
»Das ist Ihre Erklärung?«
»Er ist schizophren. Er ist überzeugt, etwas Schlimmes getan zu haben, aber das hat er nicht.«
Sie hört mich seufzen.
»Sie sollten mit seinem Anwalt sprechen«, sage ich. »Übergeben Sie ihm Ihre Aufzeichnungen.«
»Er wird sie der Anklage zukommen lassen.«
»Sie sollten sich an die Vorschriften halten.«
»Ich versuche nur, Augie zu retten.«
»Die Polizei kann sich einen Gerichtsbeschluss besorgen.«
»Gut. Wenn das passiert, halte ich mich an das Gesetz. Bis dahin schlage ich mich auf die Seite der Engel.«
Unser Essen ist gekommen. Ich greife zu einem Brötchen, nicht bereit, mich der Suppe zu stellen.
»Haben Sie keinen Hunger?«
»Eigentlich nicht.«
Sie macht der Kellnerin ein Zeichen und flüstert ihr etwas zu. Kurz darauf wird eine weitere Suppe serviert, diesmal in einem Becher. Es sollte mir peinlich sein, aber ich bin schon jenseits aller Verlegenheit.
»Werden Sie ihn noch einmal befragen?«
»Wen?«
»Augie. Reden Sie mit ihm.«
»Ich wüsste nicht, wozu.«
»Sie werden sehen, ich habe recht. Ich habe mit ihm gearbeitet. Er ist harmlos.«
Irgendetwas verschweigt sie mir, irgendeinen Grund, warum Augie Shaw in jener Nacht zum Haus der Heymans gefahren ist. Er hat seinen Job verloren, weil er dabei erwischt wurde,
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