Sag, es tut dir leid: Psychothriller (German Edition)
Enttäuschung war. Manchmal frage ich mich, ob wir im Krankenhaus als Babys vertauscht wurden und sie eigentlich Tash mit nach Hause bringen sollte.
Die Leute sprachen von mir immer nur als der »Läuferin«, dem »zähen kleinen Ding« oder dem »Wildfang«. Mum war verzweifelt, aber Dad präsentierte stolz meine Pokale und sagte, ich wäre das Zweitbeste nach einem Sohn. »Zweitbeste« zu sein war wie zweitklassig zu sein, aber man konnte nicht erwarten, alles zu gewinnen.
Den letzten Artikel über uns habe ich gelesen, als mein Dad die Belohnung verdoppelt hat. Da wusste ich, dass er mich lieben muss. Tash sagte lange Zeit gar nichts. Solche Summen konnten ihre Eltern nicht aufbringen.
»Vielleicht kannst du jetzt ja nach Hause«, sagte sie.
»Keine Sorge«, sagte ich. »Ich gehe nicht ohne dich.«
Wochenlang flehte ich George an, uns Briefe schreiben zu lassen. Schließlich willigte er ein. Ich schrieb einen an Mum und Dad und einen zweiten an Emily. Tash schrieb an ihre Familie und an Aiden Foster, ihren ehemaligen Freund, obwohl ich nicht weiß, wozu sie sich die Mühe gemacht hat.
George hat uns gesagt, was wir schreiben sollten, damit wir keine Hinweise gaben. Wir mussten erzählen, wir wären weggelaufen und würden in London leben, und die Leute sollten aufhören, nach uns zu suchen. Ich wollte noch andere Sachen schreiben, aber George ließ mich nicht.
An einem guten Tag konnte er freundlich und großzügig sein. An einem schlechten Tag war er grausam. Er genoss es, uns zu erzählen, dass unsere Eltern uns nicht wollten. Meine Mum sei schwanger und würde ein Baby bekommen, um mich zu ersetzen, sagte er, und Tashs Eltern ließen sich scheiden.
Ich sagte Tash, sie solle ihm nicht glauben, doch er zeigte uns einen Zeitungsartikel und sagte, das wäre der Beweis, dass sie uns nicht zurückhaben wollten. Sie waren froh, dass wir weg waren. Zwei schwarze Schafe weniger. Gott sei Dank.
5
Ich stehe allein auf dem Podium, packe mit beiden Händen das Rednerpult und blinzele ins helle Licht. In den ersten Reihen kann ich Gesichter erkennen, die winterlich blass auf die Bühne gucken, während sich die hinteren, höher liegenden Reihen im Dunkel verlieren.
Der Vorlesungssaal ist halbleer. Das Wetter hat die Leute abgehalten, oder vielleicht bin ich auch nicht zugkräftig genug: Professor Joseph O’Loughlin – der zitternde Psychologe –, der angeblich »die Gedanken der anderen lesen« kann.
Dies ist nicht mein übliches Publikum. Normalerweise halte ich Vorlesungen vor Studenten mit weiten Klamotten und fettiger Haut. Heute stehe ich vor meinesgleichen: Psychologen, Psychotherapeuten und Psychiater, die glauben, ich hätte irgendeine Weisheit mitzuteilen, irgendeine bemerkenswerte Einsicht in die menschliche Seele, die ihnen ein besseres Verständnis für ihre Patienten vermittelt.
Ich beginne.
»Stellen Sie sich vor, wenn Sie können, Sie würden absolut keine Gefühle gegenüber anderen menschlichen Wesen empfinden. Keine Schuld. Keine Scham. Kein Anflug von Bedauern über irgendein Wort, irgendeine Tat, egal wie egoistisch, nachlässig, grausam, unmoralisch oder unsittlich sie gewesen sein mag.
Außer Ihnen sind alle belanglos. Niemand verdient Respekt. Gleichheit. Gerechtigkeit. Die anderen sind sämtlich nutzlose, ignorante, leichtgläubige Idioten, die Ihnen Platz und Luft zum Atmen wegnehmen.
Und nun möchte ich, dass Sie dieser seltsamen Fantasie noch die Fähigkeit hinzufügen, Ihr wahres Wesen vor anderen verbergen zu können. Niemand weiß, wie Sie wirklich sind … wozu Sie fähig sind …
Stellen Sie sich vor, was Sie erreichen könnten. Wo andere zögern, handeln Sie. Wo andere Grenzen ziehen, werden Sie sie überschreiten, unbehindert von sittlichen Geboten und Gewissensbissen, Regeln oder Moral, mit Eiswasser in den Adern und einem Herz aus Stein.
Was fangen Sie mit dieser Macht an? Das kommt darauf an, was Sie begehren. Nicht alle Psychopathen sind gleich. Und trotz allem, was in der Boulevardpresse steht, sind sie auch nicht allesamt Serien- oder Massenmörder.
Nach den Gesetzen der Wahrscheinlichkeit sitzen in diesem Hörsaal mindestens vier Personen, auf die die von mir gegebene Beschreibung zutrifft. Vielleicht sitzen Sie neben einer. Vielleicht sind Sie selbst eine.«
Im Publikum breitet sich ein nervöses Lächeln aus, doch niemand sieht seinen Nebenmann an. Sie hören mir zu.
»Wir sind alle verschieden. Einige von uns werden von Ehrgeiz oder der Gier nach Geld oder
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