Sag, es tut dir leid: Psychothriller (German Edition)
als er den Kleiderschrank der Tochter durchwühlt hat.
»Geht es um die Tochter?«, frage ich.
Victoria Naparstek schüttelt den Kopf.
»Nicht die Tochter … die Ehefrau.«
Ich frage mich oft, wie ich jetzt aussehe.
Ich kann Teile von mir sehen: meine Hände, meine Füße, meinen Bauch, meine Knie, aber nicht mein Gesicht. Wir hatten einen Spiegel, doch Tash hat ihn zerbrochen und versucht, sich die Pulsadern aufzuschneiden, also hat George ihn weggenommen.
Sie hat nicht sehr tief geschnitten, aber das lag nur daran, dass sie keine Kante gefunden hat, die scharf genug war. Unsere Schere sind wir auch los, weil Tash mir damit die Haare abgesäbelt hat. Sie wollte mich hässlich machen. Hässlicher.
Messer, Nagelknipser, alle scharfen Gegenstände sind konfisziert worden wie in einer Irrenanstalt. Sogar den Dosenöffner hat er einkassiert, weil er dachte, dass sie den Rand einer geöffneten Dose Baked Beans benutzen könnte, doch er hat ihn uns zurückgegeben, weil wir ja essen mussten.
Wenn ich mich ganz dicht über den Wasserhahn beuge, kann ich mein Spiegelbild in dem Edelstahl erkennen, aber wegen der Wölbung sieht mein Kopf aus wie ein Kürbis. Es ist wie in einem dieser Zerrspiegel auf der Kirmes oder auf den verrückten Bildern, die man mit Photo Booth auf dem Mac machen kann.
Tash ist bestimmt bald zurück. Und sie wird die Polizei mitbringen … meine Mum und meinen Dad … die Armee, die Marine, die Garde der Königin. Jedes Mal wenn ich auf das Fenster über dem Waschbecken schaue, denke ich an sie. Und jedes Mal wenn ich die Augen schließe.
Die Polizei hat George bestimmt verhaftet, deshalb ist er nicht gekommen. Sie haben ihn eingesperrt, und ich hoffe, sie prügeln ihn windelweich, oder er wird im Gefängnis mit einem beschissenen Besenstiel vergewaltigt.
Sorry wegen dem Fluchen. Ich hab ein schmutziges Mundwerk. Einmal habe ich mitbekommen, wie meine Mum meiner Tante Jean erzählte, dass ich vielleicht das Tourette-Syndrom hätte. Ich habe es gegoogelt und herausgefunden, dass man damit in unpassenden Momenten Scheiße sagt und viel blinzelt und Fratzen zieht. Gordon Ramsey macht das die ganze verdammte Zeit, dachte ich, und ich fluche nicht in unpassenden Momenten, sondern bloß oft.
Ich liege zusammengerollt auf der Pritsche und habe all meine Kleider an. Als Tash noch hier war, haben wir immer zusammengelegen, um uns zu wärmen, und uns dabei Geschichten erzählt. Wir malten uns Fantasiemahlzeiten aus – Fish’n Chips, Brot und Butter, Pudding und Chicken Korma, Tashs Lieblingsessen.
Nachdem sie mir die Haare abgeschnitten hatte, bot ich an, ihre zu schneiden, doch sie meinte, es wäre egal, weil sie sowieso ausfallen würden. Sie konnte es büschelweise herausreißen, als wäre es ein Zaubertrick.
Als kleines Mädchen habe ich meine Haare immer nass gemacht, mit einem Kamm geglättet, bin vor dem Spiegel auf und ab stolziert und hab mir eingebildet, ich hätte glattes Haar. Ich habe eine Menge peinliche Sachen gemacht, die mir heute gar nicht mehr so schlimm vorkommen.
Ich bin jetzt achtzehn – soweit ich weiß. Ich habe keine Ahnung, welches Datum wir haben, aber bei den Jahreszeiten kann ich noch mithalten. Im letzten Frühjahr hat Tash mich eines Morgens geweckt und erklärt, sie würde mir eine Geburtstagsparty schmeißen. Es gab Kekse und gesüßten Tee auf einer Decke in der Mitte des Fußbodens.
Ich weiß, dass jetzt Winter ist, wegen dem Schnee und der kahlen Bäume. Wenn ich auf der Bank stehe und mich auf die Zehenspitzen stelle, kann ich rausgucken. Das Fenster ist etwa fünfundzwanzig Zentimeter hoch und noch ein kleines Stückchen breiter. Wenn ich mein Gesicht dicht davorhalte, kann ich den Luftzug spüren, der durch den Spalt an der Unterseite des Metallrahmens dringt. Zu bestimmten Zeiten im Jahr fallen die Sonnenstrahlen so durchs Fenster, dass sie bewegliche und sich wandelnde geometrische Schatten an die Wand gegenüber werfen. Das ist mein Fernsehen – und mein Wetterbericht.
Aus diesem Fenster hat sich Tash, auf meinen Schultern stehend, gezwängt. Ich habe es wieder zugezogen, damit George nicht gleich ausrastet, doch er wird es auch so merken, und ich kann mich hier nirgends vor ihm verstecken.
Ich kenne jeden Quadratzentimeter dieses Lochs. Ich kenne die Risse und Spalten zwischen den Ziegelsteinen, jeden Wasserfleck, jeden Klecks und jedes Flöckchen abgeblätterter Farbe.
In einer Ecke stehen die beiden schmalen Pritschen. Tash und ich haben sie
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