Sag, es tut dir leid: Psychothriller (German Edition)
aufgesägt werden, um die Tote zu bergen. Die Leiche wurde am Abend des 19. Dezember ins John Radcliffe Hospital transportiert, in schwarze Plastikplane gewickelt, in einem weißen versiegelten Leichensack.«
Dr. Leece hält inne und sieht seine Studenten an. »Eine derartige Obduktion stellt uns vor eine Reihe von Herausforderungen. Eine gefrorene Leiche taut unterschiedlich schnell – zuerst die Gliedmaßen, dann der Kopf und der Torso. Zellen können Wasser nur speichern, wenn sie nicht gefroren und unbeschädigt sind. Sobald sie Zimmertemperatur erreichen, reißen sie, deshalb muss ich schnell arbeiten.«
Er fängt an zu beschreiben, was er sieht.
»Die Tote ist von schlanker Statur, etwa 163 Zentimeter groß, wirkt unterernährt, Gewicht zweiundvierzig Kilo. Sie hat blondes, welliges, grob geschnittenes, schulterlanges Haar. Ihr Schamhaar ist rasiert. Die Ohrläppchen sind durchstochen, die Fingernägel abgekaut.«
Dr. Leece zieht die Augenlider auf.
»Bei minus zwölf Grad hat sich der ganze Körper komplett blass weiß und möglicherweise auch leicht bläulich verfärbt. Die Cornea ist glasig, die Pupillen mit einem Grauton angelaufen.
Zwei Impfnarben am Oberarm sowie eine alte geschwungene Narbe am äußeren rechten Ellbogen. Schürfwunden an der Außenseite der Oberschenkel und an den Hüften.«
Seine Stimme spült über mich hinweg. Ich hebe den Kopf, sehe mein Spiegelbild in der Scheibe und versuche, an etwas anderes als die Obduktion zu denken. Ich komme mir dumm vor, fast feige. Meine schlimmsten Erinnerungen an das Medizinstudium handeln vom Aufschneiden von Leichen, davon, das Skalpell in aufbewahrtes Fleisch zu stoßen, das die Konsistenz von gefrorener Butter hatte. Anfängerkurs makroskopische Pathologie – das Sezieren einer menschlichen Leiche.
Man sagte uns nie den Namen der »Patienten«, nur die Todesursache, aber das hielt mich nicht davon ab, mir ihr Leben vorzustellen – ihre Familien, ihre Stimmen, ihr Lachen, ihre Lebenswege. Das war mein Problem, erklärte man mir, zu viel Einbildungskraft.
Dr. Leece redet immer noch. »Arme und Beine sind symmetrisch und weisen keinerlei Anzeichen einer akuten Verletzung auf. Keine Einstiche. Haut ein wenig glänzend …«
Seine behandschuhten Finger gleiten bis zu ihren Knöcheln und drehen sie. »An beiden Knöcheln Spuren von alten Verletzungen und Narben. Die Haut ist aufgerissen und wieder verheilt.«
Er bewegt sich weiter nach oben und hält inne. »Ein großer Bluterguss am linken Oberschenkel, wahrscheinlich durch den Aufprall eines stumpfen Gegenstands. Etwa dreißig Zentimeter lang.« Dr. Leece blickt zu dem Fenster auf und richtet sich direkt an mich. »Das könnte ein Indiz für einen Zusammenstoß mit einem Fahrzeug sein. Die Höhe stimmt.«
Er spricht weiter, bis ich höre, wie ihm unvermittelt der Atem stockt. Ohne Vorwarnung macht er einen Schritt nach hinten und hebt beide Arme. Er stolpert gegen einen Metallwagen und wirft ein Tablett um. Instrumente fallen klappernd zu Boden.
Er blickt von der Leiche zum Zuschauerfenster hoch wie ein Schauspieler auf der Bühne, der seinen Text vergessen hat.
Dann findet er seine Sprache wieder.
»Raus hier! Alle miteinander.«
Die Studenten starren sich an – niemand reagiert.
»Ich sagte, raus!«, brüllt er jetzt. »Die Stunde ist beendet.«
Er wendet sich seinem Assistenten zu. »Holen Sie DCI Drury.«
Leece schließt für eine Sekunde die Augen, öffnet sie wieder und schwankt leicht, als würde die Welt an ihm vorbeitrudeln, während er auf einem Karussell gefangen ist. Er stützt sich auf den Rand des kühlen Edelstahltisches und starrt auf die Leiche. Es hätte ein Routinejob sein sollen. Jetzt macht es ihm Angst.
Als ich klein war
hatten wir ein Brettspiel, wo man so tun musste, als wäre man ein Chirurg und würde mit einer Pinzette Dinge aus einem Patienten holen, Sachen wie Musikknochen, gebrochene Herzen oder Schmetterlinge im Bauch.
Im Augenblick fühle ich mich, als hätte jemand etwas aus mir herausgenommen und ein Tash-großes Loch hinterlassen. Ich stelle mir vor, dass ich seine Umrisse mit den Fingern ertasten kann.
Ich stehe auf der Bank und spähe durch den Spalt an der Unterkante des Fensters. Es ist Tag. Der Schnee ist weg, zurückgeblieben sind Schlamm und platt gedrücktes Gras. Die Bäume sehen aus wie Riesen, die die Arme ausstrecken.
Ich brauche einen Plan. Was, wenn George nicht zurückkommt? Was, wenn er mich einfach hier hocken lässt? Was,
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