Sag, es tut dir leid: Psychothriller (German Edition)
vereisten Straßen, fährt nie viel schneller als dreißig und berührt die Bremse nur, wenn er unbedingt muss. Victoria Naparstek ist nicht mehr bei mir. Als ich erwähnte, bei Drury vorbeischauen zu wollen, wurde sie still und fing an, nach Ausflüchten zu suchen.
»Er hat Frau und Kinder«, sagte sie, als ob das einen Unterschied machen würde.
Das Taxi hält vor einem zweistöckigen Haus mit Giebeldach. Jenseits des Tors steht ein schiefer Schneemann mit geblümtem Hut und Tottenham-Schal.
Drury schippt in seiner Einfahrt Schnee. Er ist ins Schwitzen gekommen und trägt nur noch weite Chinos und ein Sweatshirt.
Vor meinen Füßen landet ein Schneeball. Ein junges Mädchen späht hinter einer provisorischen Burg aus Mülltonnen und einem Schlitten hervor.
»Daneben«, sage ich.
Sie hält einen weiteren Schneeball hoch. »Das war nur ein Warnschuss«, sagt sie.
Drury stützt sich auf seine Schaufel. »Feuer einstellen, Gracie.«
»Ich finde, wir sollten ihn verhaften, Daddy, er sieht aus wie ein Böser.«
»Hören wir erst mal, was er zu sagen hat.«
Gracie trägt eine Wollmütze mit Ohrenklappen, mit der sie aussieht wie Snoopy von den Peanuts. Ihre blassen Wangen sind mit Sommersprossen gesprenkelt, auf ihrer Nasenspitze sitzt eine Brille. Ihr jüngerer Bruder hockt auf der Treppe vor dem Haus und schiebt einen Spielzeugbagger durch Eisklumpen.
»Was wollen Sie hier, Professor?«
»Ich habe eine Frage.«
»Das hätte warten können.«
»Ich habe noch einmal mit Augie Shaw gesprochen.«
»Mit wessen Genehmigung?«
»Der seines Anwalts und seiner Psychologin.«
Drury stellt die Schaufel ab und zieht die Handschuhe aus. »Wie lautet Ihre Frage?«
»Warum würde eine Frau mitten in einem Schneesturm ohne Schuhe rausgehen?«
»Sprechen Sie von jemand Bestimmtem?«
»Sie haben im See eine bislang nicht identifizierte Frau gefunden.«
»Was ist mit ihr?«
»Augie Shaw hat gesagt, er hätte in jener Nacht eine Frau auf der Straße gesehen. Er glaubt, er hätte sie vielleicht angefahren. Deswegen hat er seinen Wagen in den Graben gesetzt.«
Drury wirkt nicht überrascht. Ich versuche es noch einmal.
»Sie haben eine Frauenleiche im See gefunden. Ich habe den Tatort vom Zug aus gesehen. Wie weit ist er von dem Bauernhaus entfernt?«
Drury antwortet nicht. Seine Frau ist auf der obersten Stufe der Treppe aufgetaucht, eine Hand in die Hüfte gestemmt, eingerahmt von der Tür. Sie ist schwanger, hübsch, mit müden Augen.
»Alles in Ordnung, Stephen?«, fragt sie.
»Alles bestens. Das ist der Psychologe, von dem ich dir erzählt habe.«
Sie lächelt. »Du solltest ihn hinein ins Warme bitten.«
»Der Professor bleibt nicht lange.«
Sie hebt den kleinen Jungen hoch und stützt ihn auf der Hüfte ab, bevor sie sich nach drinnen wendet.
Ich bemerke eine Bewegung an den Gardinen vor dem Wohnzimmerfenster. Sie beobachtet uns.
Drury reibt sich den Nacken. »Kommen Sie zur Sache, Professor.«
»Die Frau im See – hatte sie Schuhe an?«
»Ich weiß es nicht.«
»War sie verletzt?«
»Ich habe den Obduktionsbericht noch nicht gesehen. Die Leiche war steinhart gefroren. Man kann sie erst aufschneiden, wenn sie aufgetaut ist.«
Der DCI stößt die Schaufel in einen großen Schneehaufen.
»Ich glaube, sie war an dem Abend in dem Bauernhaus«, sage ich. »In der Waschküche weichte ein Kleid in einer Wanne. Vor dem Kamin standen Schuhe zum Trocknen. Jemand hat gebadet …«
»Sie klingen wie eine Platte mit einem beschissenen Sprung.«
Gracie schlägt sich die Hand vor den Mund. »Du hast ein schlimmes Wort gesagt, Daddy. Du weißt, was das heißt.«
Drury kramt in der Hosentasche nach Kleingeld. Gracie streckt ihre behandschuhte Hand aus und schließt die Finger über der Silbermünze.
»Geh und steck es in die Fluch-Spardose«, sagt er. »Jetzt sofort.«
Sie schlittert über den harten Schnee und rennt die Stufen zur Haustür hinauf.
»Zieh die Schuhe aus, bevor du reingehst.«
Die Tür fällt krachend zu. Ich höre, wie Gracie ihrer Mutter erzählt, dass ihr Daddy geflucht hat.
»Dieses verdammte Fluch-Sparschwein verdient mehr als ich.«
Er wendet sich mir zu und spreizt die Finger gegen die Kälte.
»Drehen Sie es, wie Sie wollen, Professor, es ändert rein gar nichts. Augie Shaw hat diese Leute umgebracht.«
»Was ist mit den Kleidern auf dem Bett im ersten Stock und dem zerbrochenen Fenster im Bad?«
Drury drückt sich ein Nasenloch zu und bläst aus.
»Okay, mal angenommen, Sie
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