Sag, es tut dir leid: Psychothriller (German Edition)
spreche.«
Charlie seufzt. »Warum sparen wir uns nicht ein bisschen Zeit? Ich erzähl Mum, dass du mir einen ordentlichen Anschiss verpasst hast. Und du kannst ihr versichern, dass du mir den Kopf zurechtgerückt hast. Alle sind glücklich.«
»Darum geht es eigentlich nicht.«
»Ich werde nicht aufhören, mit ihm zu reden, Dad. Wir lie ben uns.«
»Er ist zu alt für dich, Charlie.«
»Er ist zwanzig. Du bist auch fünf Jahre älter als Mum.«
»Das ist etwas anderes.«
»Wieso?«
»Fünf Jahre sind ein großer Abstand, wenn man fünfzehn ist.«
»Es gibt Mädchen, die heiraten in meinem Alter.«
»Nein, nicht mehr.«
»In anderen Ländern schon.«
»Arrangierte Ehen mit Männern, die alt genug sind, um ihr Großvater zu sein.«
Sie sieht mich trotzig an, und wir entscheiden uns beide zu schweigen. An einem Tisch in der Nähe lacht eine Frau zu laut, zwei Männer diskutieren über Fußball.
»Sollen wir morgen vielleicht nach London zurückfahren?«, schlage ich vor.
»Hast du nicht noch hier zu tun?«
»Ich habe getan, worum man mich gebeten hat. Wir könnten einen frühen Zug nehmen, in Covent Garden zu Mittag essen … uns die Weihnachtsbeleuchtung in der Regent Street angucken.«
Sie nickt und nippt an ihrem Softdrink.
»Ich könnte auch allein zurückfahren und in deiner Wohnung bleiben. Du könntest mir den Schlüssel geben.«
»Dann wärst du ja ganz allein.«
»Ich kann kochen.«
»Ich glaube nicht, dass das deiner Mutter gefallen würde.«
Charlie hat einen Plan. Sie testet ihre Grenzen aus, nabelt sich langsam von mir ab, wird erwachsen, geht weg. Als wir zurück zum Hotel laufen, bemerke ich ein Dutzend Teenager auf der Straße, dünne, o-beinige Mädchen in engen Jeans und Jungen mit streichholzkurzen Haaren und Kapuzensweatshirts.
Eins der Mädchen flüstert einem Jungen etwas zu und reibt sich verführerisch an ihm, bis er ganz rot wird. Er gibt ihr eine Zigarette für sie und ihre Freundinnen.
Charlie nimmt sie zur Kenntnis, scheinbar ohne den Blick zu heben. Sie geht ein paar Schritte vor, um sich von mir zu distanzieren. Sobald die jungen Leute um die Ecke gebogen sind, lässt sie sich wieder zurückfallen.
»Freunde von dir?«
»Sehr komisch, Dad.«
In jener Nacht träume ich von einem Mädchen, das so schnell rennt, wie sie nur kann, durch Äste und Unterholz bricht, die nackten Füße erfroren. Sie hat Schnittwunden im Gesicht und an den Händen, und das Blut vermischt sich mit dem Schweiß auf ihrer Haut.
Der Schnee verändert die Landschaft, bedeckt die Pfade, Felsen und Baumstümpfe. Sie wünscht, sie würde über vertraute asphaltierte Straßen laufen. Ohne Orientierung rennt sie blindlings weiter, während der Schneesturm ihre Spuren verwischt. Aber die Dunkelheit kann sie nicht verbergen. Etwas verfolgt sie unbarmherzig.
Sie stolpert weiter, klettert über Zäune, bricht durch Büsche, rennt über Feldwege und durch Wälder. In dem knietiefen Schnee kommt sie nicht schnell genug voran. Sie kann ihre Füße nicht mehr spüren.
Plötzlich wird sie von hellen Scheinwerfern geblendet, sie erstarrt, gebannt in dem Strahl wie eine Fliege auf Fliegenpapier. Der auf sie zukommende Wagen versucht schlingernd auszuweichen, und sie wappnet sich für den Aufprall. Sie wird rückwärts in eine Schneeverwehung geschleudert und spürt, wie sie in der pulverigen Masse versinkt, von ihr zugedeckt wird wie von einer Bettdecke. Ihre Lunge saugt eisige Federn in ihre Brust.
Sie lebt. Der Wind heult. Die Bäume verschwimmen in einem weißen Flimmern. Eine Stimme ruft. Sie rappelt sich auf und rennt weiter, stolpert über einen Schneehaufen, auf der Flucht vor dem Ding, das sie jagt.
Aus den Augenwinkeln nimmt sie eine Bewegung wahr, eine schwarze Silhouette. Ein Tier. Es hüpft durch den Schnee, bleibt stehen, bellt. Sie beruhigt den Hund. Sei still, sagt sie. Sonst verrätst du mich noch. Sie laufen zusammen weiter, auf ein gemeinsames Schicksal zu.
Im Dunkeln erkennt sie den brüchigen Rand des Sees erst, als sie durch das Eis bricht. Der Schock des eiskalten Wassers lässt ihren Atem stocken und zieht Wasser in ihre Lunge. Eis.
In meinem Traum kauert jemand am Ufer. Er wartet auf sie, hält ihr einen Ast hin, will, dass sie sich an Land zieht, doch sie ergreift ihn nicht. Sie will nicht gerettet werden. Die Kälte sickert in ihre Knochen. Ihre Gliedmaßen verweigern den Dienst. Sie kann den Kopf nicht mehr über Wasser halten.
Und in jenen letzten Sekunden ihres Lebens
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