Sag mir, wo die Mädchen sind
Vielleicht war sie deshalb bereit gewesen, einer Fremden mehr Glauben zu schenken als ihrer Tochter.
Auf dem Weg zur Bushaltestelle versuchte ich, Heini zu erreichen, doch sie meldete sich nicht. Es war halb fünf, der Literaturkreis begann erst am Abend. Ich war völlig erschöpft und musste unbedingt meine Gedanken ordnen. Der Bus war prallvoll, in der Mitte standen bereits zwei Kinderwagen, und eine bis auf die Augen völlig verschleierte Frau versuchte verzweifelt, auch ihren Wagen noch unterzubringen. Ich half ihr beim Heben und bat einen unwirsch dreinschauenden Mann mittleren Alters, ein Stück zur Seite zu rücken, damit der Platz reichte.
«Kann die nicht auf den nächsten Bus warten? Eilig hat die es bestimmt nicht, von denen arbeitet doch keiner, die setzen bloß Kinder in die Welt, die von unseren Steuergeldern leben», sagte der Mann.
«Treten Sie einfach beiseite und halten Sie Ihre politischen Reden anderswo.»
Der Mann sah mich an, als wollte er mir eine langen. Der Busfahrer wollte bereits die Tür schließen, doch ich rief ihm zu, dass noch jemand dazwischensteckte.
«Ey Alter, mach endlich Platz!», rief ein Punker, nicht viel älter als Iida. «Du bist hier das Problem, nicht der Kinderwagen.»
Der Mann wurde rot und trat an den Jungen heran, der eine mit Pins gespickte Lederjacke und abgelatschte Springerstiefel trug. Er zeigte keine Angst, obwohl der Mann größer und breiter war. Ich brachte den Kinderwagen unter, und auch die Mutter quetschte sich in letzter Sekunde herein, bevor die Türen sich schlossen. Die meisten Passagiere taten, als hätten sie den Zwischenfall nicht bemerkt. Viele trugen Kopfhörer, einige waren in ein Buch vertieft. Der Radaubruder stieg an der nächsten Haltestelle aus, eine der anderen Kinderwagenmütter ebenfalls, und als der Platz neben dem Punker frei wurde, setzte ich mich zu ihm. In Espoo war es nicht üblich, sich im Bus mit Fremden zu unterhalten, zudem hatte der Junge seinen MP 3 -Player so laut aufgedreht, dass ich das Stampfen hören konnte. Es klang verdächtig nach den guten alten Dead Kennedys. Ich lächelte dem Jungen zu und streckte den Daumen hoch. Er lächelte zurück. Auf dem Rest der Fahrt versuchte ich, mich zu entspannen. Natürlich hätte ich meine gesamte polizeiliche Autorität eingesetzt, wenn der Mann sich mit dem Jungen angelegt hätte, doch das war mir zum Glück erspart geblieben. Ich stieg in Leppävaara aus, ebenso wie die Frau, der ich erneut mit dem Kinderwagen half. Ihre Augen lächelten, aber sie sagte kein Wort. Als der Bus abfuhr, zeigte mir der Punker den Daumen. Wer wollte noch behaupten, bei der heutigen Jugend seien Hopfen und Malz verloren?
Zu meiner Überraschung stand mein Vater im Wohnzimmer und sah Taneli zu, der seine Sprünge übte.
«Das ist der Lutz – der beginnt mit einem Innenbogen, das sieht man nicht richtig ohne Schlittschuhe. Aber im Fernsehen erkennst du ihn daran, dass der Läufer sitzt wie auf einem Stuhl, bevor er abspringt – so!» Taneli schnellte hoch und machte zwei Umdrehungen in der Luft.
«Mutti, ich bring Opa die Sprünge bei, nächste Woche ist die WM ! Opa sagt, dass er früher eine Eiskunstläuferin mochte, die Katarina Witt hieß. Wer war das?»
«Zweifache Olympiasiegerin im Eiskunstlauf der Frauen», antwortete ich, obwohl mein Vater die Witt vermutlich weniger wegen ihrer sportlichen Leistungen geschätzt hatte. «Allem Anschein nach geht es dir besser?»
«Es wird langsam wieder. Ich hätte Lust auf einen kleinen Spaziergang, draußen sieht es so frühlingshaft aus. In Arpikylä liegt der Schnee noch einen Meter hoch, und morgen soll es wieder schneien. Aber weiter als bis zum Gartentor wage ich mich nicht. Taneli, komm doch mit. Draußen hast du mehr Platz für deine Sprünge.»
Antti hatte am Vortag Lachssuppe gekocht, die ich nur aufzuwärmen brauchte. Mein Diensthandy blieb den ganzen Abend stumm, und der einzige private Anruf kam von meiner Freundin Leena, die sich zu einem einwöchigen Reha-Kurs in Peurunka aufhielt und in Plauderstimmung war. Wir redeten mehr als eine halbe Stunde. Obwohl Leena nach ihrem Verkehrsunfall nie mehr würde laufen können, arbeitete sie im Verband der Behindertensportler. Das Beste am Reha-Kurs war bisher ihrer Meinung nach ein Dozent gewesen, der über die psychischen Auswirkungen einer Behinderung gesprochen hatte, ohne die Dinge zu beschönigen; Leena hatte das Gefühl, etwas Neues gelernt zu haben.
In einigen der Träume, die während
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