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Sag mir, wo die Mädchen sind

Sag mir, wo die Mädchen sind

Titel: Sag mir, wo die Mädchen sind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leena Lehtolainen
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überlegte, wie lange sie daran gearbeitet haben mochte. Im Mädchenclub gab es einen Nähkurs, in dem traditionelle Handarbeiten aus verschiedenen Kulturen gelehrt wurden, doch daran hatte Iida kein Interesse. Immerhin kürzte sie ihre Jeans schon selbst, aber Knöpfe annähen war ihr zu langweilig. Solange sie beim Formationslauf war, hatten Antti und ich Pailletten auf ihr Trikot genäht, obwohl wir beide diese Pusselei hassten. Zum Glück brauchte Taneli für seine Wettbewerbe bisher nur eine schwarze Hose und ein weißes Hemd.
    Aisha kam mit Teekanne und Zuckerdose zurück. Sie goss ein rötliches, nach Äpfeln riechendes Getränk ein und reichte mir eine Tasse. Der Tee war heiß und süß. Aisha trank einen Schluck, bevor sie weitererzählte.
    «Die Frau sagt zu mir, dass Ayan liebt Adey wie Mann liebt Frau. Gehen Hand in Hand und küssen. Das in Finnland nicht Sitte, wenn nicht falsche Liebe.»
    «Welche Frau?»
    «Die Frau im Club.»
    «Miina?»
    «Nicht Adey! Die große blonde. Boss.»
    «Sylvia Sandelin? Eine ziemlich alte Frau?»
    «Neinneinnein! Junge Frau! Nicht Mädchen, Frau. Die Chefin im Club.»
    «Heini Korhonen?» Ich wollte meinen Ohren nicht trauen, obwohl ich den Namen selbst ausgesprochen hatte. Der Mund wurde mir trocken, ich trank noch etwas Tee. Aisha sah mir zum ersten Mal in die Augen, als sie antwortete.
    «Ja, die. Kommt zu mir, sagt, sie weiß, dass Islam nicht mag zwei Frauen schlafen zusammen. Ich besser Ayan schützen. Ayan wegschicken.»
    «Und du hast ihr geglaubt – und nicht Ayan?»
    Aisha nickte. Ich wusste nicht mehr, wem ich glauben sollte. Jemand hatte gelogen, Aisha selbst, Miina oder Heini. Hatte Heini die Beziehung zwischen Miina und Ayan falsch eingeschätzt und schämte sich nun so über ihren Fehler, dass sie ihn der Polizei nicht eingestehen wollte? Oder hatten Aishas lückenhafte Sprachkenntnisse ihr einen Streich gespielt? Ich trank meine Tasse leer.
    «Wohin ist Ayan denn nun gegangen?», fragte ich.
    «Ich weiß nicht. Sie gesagt, sie hasst mich für immer, und gegangen. Danach nichts von ihr gehört.»
    Ich dachte an die Gerüchte über Ayan, die im Internet umliefen. War das Gerede über ihre Beziehung zu einer Frau doch ihrem Vater und ihren Brüdern zu Ohren gekommen? Hatte Heini auch ihnen von ihrem Verdacht erzählt? Ich musste gleich morgen mit ihr reden, selbst wenn sie noch nicht ganz wiederhergestellt war. Oder hatte sich Ayan aus Gram über die Behauptungen ihrer Mutter das Leben genommen? Zwar lagen die Gewässer schon seit Anfang des Jahres unter einer festen Eisdecke, doch unter den Brücken blieben immer offene Stellen. Schlaftabletten und eine Frostnacht im Wald waren ebenfalls eine tödliche Kombination, und wenn Ayan sich eine abgelegene Stelle ausgesucht hatte, würde man sie erst im Frühjahr finden.
    «Hast du deinem Mann und deinen Söhnen erzählt, warum Ayan weggegangen ist?»
    «Neinneinnein! Darf nicht erzählen! Du nicht sagen, ja?» Aisha umklammerte mein Handgelenk. «Bist du Mutter? Du Kind?»
    «Zwei. Ein Mädchen und ein Junge.»
    «Nur zwei. Was wenn keins mehr, wenn alle tot?»
    Bei der Frage lief es mir kalt über den Rücken. Diesen Gedanken wollte ich gar nicht erst zulassen. Lieber dachte ich über Ayan nach. Nach ihrem Verschwinden hatten Koivu und Puupponen bei den Frauenasylen in Südfinnland nachgefragt, wo viele Migrantinnen Schutz vor gewalttätigen Angehörigen suchten. Ayan war in keinem der Häuser aufgetaucht. Aber war es richtig, ihrem Vater und ihren Brüdern zu verschweigen, dass noch Hoffnung bestand, sie lebend zu finden? Ayan war volljährig und hatte ihre Entscheidung selbst getroffen.
    «Ich weiß, dass man dir diese Frage schon gestellt hat, aber habt ihr hier in Finnland Verwandte oder Freunde, zu denen Ayan vielleicht gegangen ist?»
    «Nein … Freunde klein … wenig, Sudaner. Sie würden erzählen. Verwandte nein. Alle gestorben in Darfur. Ich denke dass Ayan Angst vor alle Mann, deshalb mag Adey. Viele böse Mann in Darfur töten Ayans Schwestern. Gutaale kommt bald. Mag nicht, wenn hier Frau Polizist.»
    Ich gab Aisha meine Visitenkarte und bat sie, sich zu melden, wenn ihr noch etwas einfiel. Dabei überlegte ich, ob sie wohl ein Handy besaß; einen Festnetzapparat hatte ich in der Wohnung nicht gesehen. Bei unserem vorigen Besuch hatten die Nachbarn ausgesagt, die Familie bekomme selten Besuch. Aisha hatte vermutlich niemanden gehabt, mit dem sie über Heinis Behauptungen sprechen konnte.

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