Sag mir, wo die Mädchen sind
Hotel gab es fließendes Wasser, was in Kabul immer noch ein Luxus war. Auf der Straße sah man Frauen, die an den öffentlichen Brunnen Wasser holten. Man hatte uns strikt eingeschärft, nur in Flaschen abgefülltes Wasser zu trinken und genau darauf zu achten, dass der Verschluss dicht war.
Ich ließ Vala herein, obwohl ich keineswegs sicher war, dass ich Gesellschaft brauchte. Er hatte eine etwa vierzig Zentimeter lange und ebenso breite, an die zwanzig Zentimeter hohe Holzkiste mitgebracht, die er auf den Tisch stellte, bevor er sich auf den einzigen Stuhl in meinem Zimmer setzte. Der Deckel war mit einem Segelschiff bemalt. Vala nahm zwei Gläser und eine Flasche Malt-Whisky aus der Kiste. Es handelte sich um eine meiner Lieblingsmarken, doch der rauchige Torfgeschmack lockte mich diesmal nicht. Er erinnerte zu sehr an das, was geschehen war.
«Wir brauchen jetzt beide einen Drink. Wie viele Fingerbreit?»
«Darfst du im Dienst überhaupt trinken?»
«Wir wollen mal nicht pingelig sein. Ich genehmige mir jedenfalls einen.» Vala goss sein Glas halb voll. «Was ist? Stehst du doch unter Schock?»
Offenbar nicht, überlegte ich mir, denn ich war immer noch fähig, die Schocksymptome aufzuzählen. Aber wahnsinnig müde war ich. Ich bat Vala, mir zwei Fingerbreit einzugießen. Der Laphroaig hatte Fass-Stärke, sechzig Prozent, er brannte zuerst im Hals, dann im Magen. Wenn ich mein Glas leer trank, würde ich die Tränen nicht mehr zurückhalten können.
«Was in aller Welt machst du hier? Du hast zwei Kinder, das jüngere ist noch nicht mal zehn. Wieso bist du nicht bei ihnen, sondern in einem Land, in dem Kriegszustand herrscht?»
Bis dahin hatten Vala und ich uns strikt auf berufliche Themen beschränkt. Vermutlich hatte er gehört, was ich Ulrike über meine Kinder erzählt hatte. Ich hatte Ulrike durch das European Network of Policewomen kennengelernt, schon bevor sie zu dem Projekt «Polizistinnen für Afghanistan» gestoßen war. Sie hatte Iida und Taneli getroffen, als die beiden mich in Tampere besucht hatten.
«Ich war intensiv an dem Schulprojekt beteiligt und habe in Finnland weibliche Lehrkräfte ausgebildet. Ich wollte an der Eröffnung teilnehmen, weil ich ihren Mut respektiere.»
«Respektierst du ihn mehr als das Recht deiner Kinder auf ihre Mutter?»
Genau das hatten auch Antti und meine Mutter gefragt. Nur mein Vater hatte geschwiegen und nicht versucht, mich von meinem Entschluss abzubringen.
«Meine afghanischen Schülerinnen Sayeeda, Muna und Uzuri können ja auch keinen anderen Weg wählen, egal, wie groß das Risiko ist.»
«Aber dies ist ihr Land. Du kommst aus Finnland.»
«Du doch auch. Wo liegt der Unterschied?»
«Meine Söhne kommen schon allein zurecht, und meine Frau hat mich vor Jahren verlassen. Hör mir mal zu, Kallio. Es ist immer schon so gewesen, dass die Männer kämpfen und die Frauen sich um den Haushalt und die Kinder kümmern. Das hat die Natur einfach so vorgesehen. Beides ist gleichermaßen wertvoll. Was wäre, wenn die Bombe nicht die Deutschen, sondern uns getroffen hätte? Würden deine Kinder dich für eine Heldin halten? Nein, sondern für ein egoistisches Weibsstück.»
Die Person, die ich bis zu diesem Abend gewesen war, hätte Lauri Vala vermutlich den Whisky ins Gesicht geschüttet. Aber sie war auf der Straße von Dschalalabad nach Kabul zurückgeblieben, und mein neues Ich trank kraftlos von dem nach Torf riechenden, kupferfarbenen Destillat.
«Unsere Sicherheit sollte doch gewährleistet sein», wandte ich ein.
«In diesem Land herrscht Bürgerkrieg. Da gibt es keine Garantien. Unsere westlichen Gesetze gelten hier nicht. Wir stehen Horden von Männern gegenüber, die völlig anders denken als wir. Für die ist sogar das eigene Leben billig und das des Gegners absolut wertlos. Von Finnland aus ist es leicht, optimistisch zu sein. Du warst hier doch in den Gefängnissen. Was denkst du, wie schnell man solche Verhältnisse ändern kann? Wie lange werden deine Schülerinnen überleben? Mit viel Glück vielleicht bis Weihnachten. Für die Taliban ist die Polizeischule doppelt schlimm, weil die westlichen Länder dahinterstehen und weil dort auch Frauen arbeiten.»
Ich spürte, wie der Whisky meine Gedanken zum Schweben brachte, mein Gehirn war leicht, es wog fast nichts mehr. Männer wie Lauri Vala waren mir schon öfter begegnet, und von einem bei der Friedenssicherung eingesetzten Berufssoldaten war wohl nicht allzu viel Optimismus zu
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