Sag mir, wo die Mädchen sind
Kontrolle behalten, musste vergessen … An Lauri Vala wollte ich mich nicht erinnern. Seit jenem Abend hatten wir kein Wort miteinander gewechselt. Und nun wollte er mich treffen, angeblich in einer Angelegenheit, über die er sich in seiner E-Mail nicht äußern konnte. Was für ein Unsinn!
Ich vergaß Vala in dem Moment, als Nelli Vesterinen zurückrief.
«Endlich nimmt jemand Ayans Verschwinden ernst! Wir haben uns schon gewundert, dass die Polizei nichts tut. Ayans Freundinnen haben schon schlechte Erfahrungen mit der Polizei in ihren Heimatländern gemacht, und nun werden sie auch von den Finnen enttäuscht. Ayan hätte Finnland niemals freiwillig verlassen. Hier hatte sie ihre Arbeit und ihre Freundinnen.»
Ich fragte Nelli, mit wem Ayan befreundet war.
«Mit ihren Kolleginnen aus der Lebensmittelabteilung von Stockmann in Tapiola, wo sie halbtags gearbeitet hat. Von da ist sie oft zu uns in den Club gekommen. Ich habe sie nie in Begleitung gesehen, nur manchmal hat ihr älterer Bruder sie abgeholt. Aber Miina, Ayans beste Freundin, weiß sicher mehr als ich. Sie war diejenige, die sich Sorgen gemacht hat, als Ayan nicht mehr in den Club kam. Sie ist zu ihr nach Hause gegangen, aber die Eltern haben ihr gesagt, sie wüssten nicht, wo Ayan sei. Vielleicht wissen sie es tatsächlich nicht.»
«Wie heißt Miina mit Nachnamen, und wo finde ich sie?»
«Miina Saraneva. Sie wohnt ganz in der Nähe, nur ein paar Häuser vom Mädchenclub entfernt, in der Otsolahdentie. Sie studiert im ersten Jahr an der Technischen Hochschule, Mathematik, glaube ich. Heute Abend kommt sie her, wie jeden Dienstag. Dann sitzt sie hier und wartet auf Ayan.»
[zur Inhaltsübersicht]
3
L etzten Endes fuhr ich allein zum Mädchenclub, um kein unnötiges Aufsehen zu erregen. Ich hatte Iida ein paarmal dort hingebracht oder abgeholt, die Clubräume aber nie betreten. Die Otsolahdentie lag im ältesten Teil von Tapiola, der bereits in den fünfziger Jahren gebaut worden war, und einige der schneebedeckten, damals angepflanzten Bäume waren schon so hoch wie die Häuser. In den Räumen des Mädchenclubs im Erdgeschoss des dreistöckigen Hauses hatte sich ursprünglich ein Lebensmittelgeschäft befunden. Sylvia Sandelin besaß mehrere Wohnungen in diesem Haus, wohnte selbst aber in einem Reihenhaus an dem zum Meer hin gelegenen Ende der Straße. Das Lokalblatt hatte der Gründung des Mädchenclubs eine ganze Seite gewidmet, und über Google hatte ich eine Reihe weiterer Zeitungsartikel über Sylvia Sandelin gefunden, sowohl in Frauenillustrierten als auch in Wirtschaftsblättern.
Bevor ich zum Mädchenclub fuhr, hatte ich zu Hause rasch etwas gegessen. Taneli war noch beim Zusatztraining, von wo ich ihn auf dem Rückweg abholen wollte. Aus Gründen der Sparsamkeit gab es bei der Espooer Polizei nur noch für die oberste Führung persönliche Dienstwagen. Da ich unterwegs auch gleich einkaufen wollte, nahm ich mein eigenes Auto. Wegen der Schneemassen war es schwierig, an der Otsolahdentie einen Parkplatz zu finden, aber nach langer Suche gelang es mir doch.
Ich erkannte Nelli Vesterinen nach Iidas Beschreibung: eine kleine, sportlich wirkende Frau mit schweren roten und grünen Rastalocken und mehreren Piercings im Gesicht. Sie lächelte freundlich und reichte mir die Hand; das Handgelenk zierte ein Tribal-Tattoo in den Farben der Rastas. Ihr Händedruck war ungewöhnlich fest.
«Ich bin Nelli Vesterinen, grüß dich. Miina ist noch nicht gekommen. Gehen wir ins Personal-Kabuff, da kann man wenigstens die Tür zumachen.»
Der größte Raum im Mädchenclub maß etwa fünfzig Quadratmeter und war unter anderem mit Sitzsäcken, Fernseher und DVD -Gerät sowie einem Webstuhl ausgestattet, auf dem ein Flickenteppich auf die Fertigstellung wartete. Daneben stand, durch einen Wandschirm geschützt, eine Hobelbank. Im Nebenraum befand sich das Musikstudio, in dem Iida gelegentlich mit ihren Freundinnen probte. Dort standen ein Schlagzeug und zwei Verstärker sowie ein uraltes Keyboard. In der Küche roch es nach Kardamom, aber dort wurde kein Hefezopf gebacken, sondern orientalisch gewürzter Reis zubereitet. Am Ende des Flurs, hinter der Küche, kam noch eine Kammer, nur einige Quadratmeter groß, der Platz reichte gerade für einen Tisch und zwei Stühle. An einer Wand des fensterlosen Raums hing das Bild einer winterlichen Gebirgslandschaft, die in Afghanistan hätte liegen können.
«Möchtest du grünen Tee?»
«Warum nicht?»
Nelli
Weitere Kostenlose Bücher