Sag mir, wo die Mädchen sind
große Stofftasche von Marimekko – gemeinhin als Markenzeichen von Architekten bekannt – bei sich hatte, schenkte ich zunächst keine Aufmerksamkeit. Mein Blick heftete sich auf einen anderen Ankömmling, einen unverschämt attraktiven Filmschauspieler, den auch die meisten anderen anstarrten. Doch dann registrierte mein Gehirn, was ich gerade gesehen hatte. Das Foto der jungen Frau hing seit zwei Wochen in unserem Ermittlungsraum; soeben war Aziza Abdi Hasan an mir vorbeigegangen! Ich stand so abrupt auf, dass der leichte Plastikstuhl beinahe umgekippt wäre. Wohin war sie gegangen? In der Halle war sie nicht mehr zu sehen. Am Taxistand warteten nur wenige Menschen, sie war nicht darunter. War sie abgeholt worden? Der Bus 615 stand abfahrtbereit an der Haltestelle, ich rannte hin.
«Polizei», sagte ich und zeigte dem Fahrer meinen Dienstausweis. «Ich suche jemanden, muss mich nur kurz umsehen.» Damit stieg ich ein und ging durch die Reihen, doch Aziza war nicht zu finden. An der Nachbarhaltestelle startete ein Bus der Verkehrsbetriebe von Vantaa, den Aziza nicht nehmen konnte, um ihre Wohnung in Leppävaara, das zur Nachbarstadt Espoo gehörte, zu erreichen. Ich stieg aus und suchte alle Bushaltestellen ab. Keine Aziza. Vielleicht war sie im Flughafen zur Toilette gegangen.
Ich kontaktierte die Flughafenpolizei und den Grenzschutz. Es dauerte fast eine Stunde, bis geklärt war, dass Aziza Abdi Hasan nicht aus einem Land außerhalb des Schengen-Gebiets eingereist sein konnte, da ihr Name auf der Fahndungsliste der Grenzschutzbeamten stand. Sie konnte nur aus Las Palmas, Stockholm, Frankfurt oder Athen gekommen sein. Ich bat darum, die Passagierlisten dieser Maschinen an die Espooer Polizei weiterzuleiten. Die Grenzschützer erlaubten mir, ihren Computer zu benutzen, sodass ich mich in unser Intranet einloggen und mir Azizas Foto noch einmal ansehen konnte. Das Mädchen auf dem Bild sah lebhaft, beinahe fröhlich aus, auf den hell geschminkten Lippen lag ein leises Lächeln, während die junge Frau am Flughafen verschüchtert gewirkt und kein Make-up getragen hatte, doch es handelte sich ohne Zweifel um dieselbe Person.
Ich rief Puupponen an und bat ihn, bei allen Bussen und Taxen nachzufragen, die zwischen zwölf und ein Uhr vom Flughafen abgefahren waren; gleichzeitig beschrieb ich Aziza so genau, wie ich nur konnte. Dann holte ich meinen Wagen aus der Tiefgarage, entrichtete die beträchtliche Parkgebühr, die sich angesammelt hatte, und machte mich auf den Weg nach Leppävaara. Die Fahrt dauerte quälend lange, denn auf der Umgehungsstraße waren zwei der drei Spuren in Richtung Westen durch einen Auffahrunfall blockiert. Die Helsinkier Kollegen lenkten den Verkehr, so gut sie konnten. Das Schneegestöber war dichter geworden, und die Fahrspuren waren gefährlich tief.
Obwohl die Wohnung in Leppävaara bei meinem letzten Besuch fast leer geräumt gewesen war, konnte es sein, dass die Familie zurückgekehrt war. Auf meinen Brief hatte sie allerdings nicht reagiert. Aziza wurde erst Ende des Jahres achtzehn, unterstand also noch der Vormundschaft ihrer Eltern. Ihre Familie hatte eine befristete Aufenthaltserlaubnis, die zum Ende des nächsten Jahres ablaufen würde.
Ich parkte unverfroren auf einem Behindertenstellplatz und ging die Treppe zu Azizas Wohnung hinauf. Auf mein Klingeln rührte sich nichts. Ich klingelte an den Nachbarwohnungen in derselben Etage, beim dritten und letzten Versuch hatte ich Erfolg. Die alte Frau, die mir öffnete, hieß dem Klingelschild nach Muchortowa. Ich fragte sie, ob sie in den letzten Tagen ihre afghanischen Nachbarn gesehen habe.
«Seit langem niemand da. Wohl verreist. Die Frau manchmal trinkt Tee mit mir. Nicht spricht viel Finnisch, ein paar Worte Russisch. Hat im Krieg gelernt. Wir sagen, wir brauchen nicht hassen, obwohl unsere Länder damals im Krieg. Zusammen wir trinken Tee. Sie möchten auch Tee?»
«Nein danke, Frau Muchortowa.» Ich gab ihr meine Visitenkarte und bat sie, sich zu melden, falls sie die Mieter der Nachbarwohnung sah.
«Sie haben nichts Böses getan, ich möchte nur mit ihnen sprechen, um etwas abzuklären.»
Auch bei Azizas Wohnung warf ich meine Visitenkarte ein. Durch den Briefschlitz sah ich einen Stapel Gratiszeitungen und Postwurfsendungen, der sich auf dem Fußboden ausgebreitet hatte. Ich wartete noch eine Weile im Wagen, doch Aziza tauchte nicht aus dem Schneegestöber auf. Vielleicht hatte ich am Flughafen Gespenster
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