Sag mir, wo die Mädchen sind
Ich hinterließ ihm die Nachricht, ich sei auf dem Weg zu seinem Nachbarhaus.
So spät am Abend war die Haustür natürlich abgeschlossen, und außen gab es keine Klingel. Ich versuchte, mir auszurechnen, welches Fenster zu Azizas Wohnung gehörte. Dann kam ich auf die Idee, mich bei der Auskunft nach Frau Muchortowas Nummer zu erkundigen, doch bevor sich jemand meldete, ging im Treppenhaus das Licht an. Ein junger Mann kam aus dem Haus und zündete sich sofort eine Zigarette an. In den Mietshäusern der Wohnungsbaugesellschaft Espoonkruunu durfte nicht mehr geraucht werden, was die Raucher sicher als diskriminierend empfanden. Der junge Mann sah mich neugierig an, ließ mich aber ins Haus.
Ich klingelte bei Azizas Familie. Es kam mir vor, als halle der Klingelton durch das ganze Haus. Ich hörte keine Schritte, die Tür wurde sofort geöffnet, als hätte jemand wartend dahintergestanden. Vor mir stand das Mädchen, das ich auf dem Flughafen gesehen hatte. Sie trug nun ein anderes Kopftuch, es war zartlila, und hinter ihrem linken Ohr lugte eine dunkle Haarsträhne hervor.
«Bist du Aziza Abdi Hasan?»
«Ja.»
«Kommissarin Maria Kallio von der Espooer Polizei. Man hat dich vermisst gemeldet, und die Polizei sucht seit mehr als einem Monat nach dir.» Ich trat ein, ohne eine Aufforderung abzuwarten, und zog die Tür hinter mir zu. Azizas Angelegenheiten gingen die Nachbarn nichts an.
Bei meinem früheren Besuch in der Wohnung hatte sie leer und unbewohnt gerochen. Jetzt lag ein pfeffriger Geruch in der Luft, als wäre kürzlich Essen gekocht worden.
«Wo ist meine Familie? Was hat man mit ihr gemacht?», fragte Aziza.
«Ich weiß nicht mehr als du.» Ich ging ins Wohnzimmer und erstarrte. Auf dem Sofa vor dem gardinenlosen Fenster saß Major Lauri Vala.
«Na also, Kallio, ich kenne dich besser, als du glaubst. Ich wusste, dass du angerannt kommst, wenn dich ein Mädchen in Not um Hilfe bittet. Und Aziza wird tatsächlich bald in der Klemme stecken, wenn wir ihr nicht helfen.» Vala saß locker vorgebeugt da, so zufrieden hatte ich ihn noch nie gesehen. Als er sich bewegte, sah ich sein Schulterhalfter. Er war bewaffnet.
«Was machst du hier?»
«Unter anderem eine SMS an dich schicken. Ich fliege nicht nach Afghanistan. Ich habe dich nur angerufen, um zu testen, ob du am Abend erreichbar bist. Wenn du nicht gekommen wärst, hätte ich die Sache allein durchziehen müssen. Aber es ist besser, dass zwei hier sind, die dem Tod schon oft ins Auge geschaut haben. Hast du das auch schon getan, Aziza? Wie haben sie dich angeworben, mit Geld oder mit Drohungen? Oder liebst du Issa Omar?»
Aziza antwortete nicht, sie starrte Vala nur an. Verstand sie von seinem Gerede auch nur ein Wort mehr als ich?
«Was geht hier eigentlich vor, Vala? Wie bist du in dieser Wohnung gelandet?»
Ein Lächeln machte sich auf seinem Gesicht breit.
«Glaubst du, es wäre mir nach meiner Rückkehr nach Finnland schwergefallen, das Haus zu finden, in dem Issa Omars Braut wohnt? Das war ein Klacks. Seitdem habe ich sie im Auge behalten. Dieses Mädchen wird uns zu Issa Omar führen. Wenn sie heute bekommt, was Issa will, bringt sie es zu seinen Helfershelfern nach Malmö, und wir folgen ihr.»
Offenbar war er restlos durchgedreht. Ich hätte liebend gern in Ruhe mit Aziza gesprochen und Valas Agentenspielchen ignoriert.
«Hast du Aziza mit der Waffe bedroht, damit sie dich einlässt?»
«Der Revolver hat ihre Kooperationsbereitschaft sicher erhöht. Aber sie ist ohnehin ein braves Mädchen. Sie will aus dem Schlamassel herauskommen und für immer nach Finnland zurückkehren, sobald wir unseren kleinen Trip nach Schweden hinter uns haben. Du willst Omar Jussuf doch auch schnappen? Der Kerl hätte uns beinahe umgebracht, und der Anschlag auf die Polizeischule mit zig Todesopfern geht ebenfalls auf sein Konto.»
«Hör mal, Vala, selbst wenn es stimmen sollte, dass ein finnischer Soldat zehn Russen aufwiegt, ist diese Sache wohl doch ein bisschen zu groß für dich. Die überlässt du besser anderen. Was soll Aziza denn gebracht werden? Drogengeld?»
«Nein, aber sie hat mit Drogengeld gekauften Schmuck, der als Zahlungsmittel dienen soll. Für Geld bekommt man alles, unter anderem falsche finnische Pässe. Ich bin gespannt, welchen Decknamen Issa Omar diesmal gewählt hat.»
«Woher weißt du das alles?»
«Von dem Mädchen. Sie hat mir auch den ausgehöhlten Koran gezeigt, in dem der Schmuck versteckt war und in dem die Pässe
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