Sag mir, wo die Mädchen sind
Auch er hatte eine Schusswaffe, eine kleine automatische Pistole mit Schalldämpfer. Das Instrument eines Berufsverbrechers. In seiner Lederjacke wirkte der Mann tatsächlich wie das Mitglied einer Motorradgang, sein Abzeichen konnte ich jedoch nicht erkennen. Er war etwas über dreißig, kaum größer als eins siebzig, aber muskulös und breitschultrig. Die langen hellbraunen Haare hatte er zum Pferdeschwanz gebunden, und sein Bart war zu zwei Zöpfen geflochten, die bis zur Mitte seines Halses reichten. Sein Gesicht war mir unbekannt, ich hatte noch nie mit ihm zu tun gehabt, aber mir war vollkommen klar, dass er nicht zum ersten Mal in seinem Leben in den Lauf eines Revolvers blickte.
«Wer immer du bist, ich rate dir, freiwillig aufzugeben. Ich habe die Pässe, und ich habe das Mädchen mitsamt dem Schmuck. Leg deine Waffe weg, dann lass ich dich am Leben.»
«Bilde dir bloß nichts ein», antwortete Vala.
Ich schob mich ans Fenster und blickte nach unten. Wir waren im zweiten Stock, es war zu gefährlich, aus dem Fenster zu springen. Die Außenwand war glatt, und auf dieser Seite hatte das Haus keine Balkone. Zudem war das Lüftungsfenster zu schmal; wenn ich fliehen wollte, musste ich das große Fenster einschlagen, was dem Unbekannten sofort verraten würde, dass sich noch eine vierte Person in der Wohnung befand. Da ich den Mann durch den Türspalt sehen konnte, würde auch er mich entdecken, wenn ich die Küche verließ und versuchte, ins Treppenhaus zu laufen. Mich auf meinen Polizeistatus zu berufen, war in dieser Situation vollkommen sinnlos; die meisten Motorradgangster rechneten es sich geradezu als Verdienst an, einen Polizisten zu töten.
«Weißt du überhaupt, für wen das Mädchen arbeitet?», fragte Vala. «Für Omar Jussuf, der in Afghanistan finnische Soldaten umbringt. Du willst doch wohl kein Landesverräter sein.»
«Ist mir doch scheißegal. Du übrigens auch», antwortete der Mann. Ich vernahm nur ein dumpfes Zischen, dann schrien Vala und Aziza auf, und im nächsten Moment hörte ich, wie Vala zu Boden sackte, auch wenn die Teppiche das Geräusch dämpften. Ich wusste nicht, wo ihn die Kugel getroffen hatte. Mit aller Kraft kämpfte ich gegen den Impuls an, zu ihm zu laufen, denn der Unbekannte war eindeutig bereit, alle Zeugen zu beseitigen. Ich versuchte, mir einzuprägen, wie er aussah. Mein Herz schlug so laut, dass ich sicher war, er müsse es hören, und ich betete darum, dass Aziza meine Anwesenheit nicht verraten würde. Sie schluchzte leise.
«Dir passiert nichts, wenn du mir gibst, was vereinbart war. Wo ist der Schmuck?»
«In der Tasche.»
«Gut. Lass mal sehen.» Der Mann tauchte wieder in meinem Blickfeld auf, er knipste eine Lampe an. Ich sah, dass er ein mit kleinen funkelnden Steinen besetztes goldenes Schmuckstück in der Hand hielt. Er betrachtete es prüfend, steckte die Waffe sorglos in den Gürtel und nahm eine Lupe aus der Jackentasche. Nachdem er den Schmuck genau inspiziert hatte, nickte er.
«Scheint echt zu sein. Die Pässe gehören dir. Hier bit… Was zum Teufel?»
Obwohl mein Blickfeld eingeschränkt war, sah ich, dass Aziza Valas Waffe, die ihm offenbar aus der Hand geglitten war, auf den Mann richtete.
«Nicht, Aziza!», rief ich. Im selben Moment drückte sie ab und traf den Mann aus zwei Meter Entfernung direkt in die Brust. Valas Waffe hatte keinen Schalldämpfer, und die Kugel war so stark, dass sie auf die kurze Entfernung mit voller Kraft durch den Körper des Mannes fuhr. Blut sprühte auf. Aziza schrie gellend. Ich versuchte die Küchentür zu öffnen, doch die Leiche des Mannes lag mir im Weg. Als ich sie zur Seite schob, beschmierte ich mich mit Blut, doch schließlich konnte ich über den Toten hinweg in den Flur springen. Der Schuss schien ihn genau ins Herz getroffen zu haben, ich musste den Blick von der Wunde abwenden.
Vala lag auf dem Fußboden, war halbwegs bei Bewusstsein, hatte jedoch einen Bauchschuss abgekriegt. Mein Handy war ihm aus der Tasche gerutscht. Es war blutig, daher wischte ich es an meiner Bluse ab. Dann rief ich die Einsatzzentrale an und meldete eine Schießerei, die zwei Opfer gefordert hatte. Anschließend versuchte ich es bei Koivu, der sich Gott sei Dank meldete. Ich bat ihn, Verbandszeug zu bringen. Im Treppenhaus wurden Stimmen laut, offenbar hatten der Schuss und Azizas Schreie die Hausbewohner alarmiert. Ich holte meinen Schal aus der Küche und versuchte, Valas Blutung zu stillen. Die Wunde lag etwa auf
Weitere Kostenlose Bücher