Sag mir, wo die Mädchen sind
Worte kaum zu verstehen waren.
«Was? Wer hat das behauptet?»
«Jemand, der seinen Namen nicht genannt hat.»
Miina schloss die Augen, ihr Kopf schwankte leicht. «Welcher der beiden Brüder war gemeint?»
Ich erzählte ihr, dass ich den Chat noch nicht gesehen hatte. Ayan hatte zwei Brüder, Gutaale und Abdullah. Beide wohnten bei ihren Eltern und arbeiteten bei einem privaten Putzdienst.
Miina war nie bei Ayan gewesen, wenn die männlichen Familienmitglieder zu Hause waren, sie hatte nur Ayans Mutter kennengelernt. Ayan wiederum hatte sich standhaft geweigert, Miina in ihrer Wohnung zu besuchen, obwohl sie nicht weit vom Mädchenclub entfernt war. Außer im Club hatten die beiden sich in verschiedenen Cafés in Tapiola getroffen, wenn sie Geld übrig hatten.
«Ayan war stolz auf ihre Arbeit, obwohl es nur ein Teilzeitjob war. Sie hätte gern Abitur gemacht und danach Ernährungswissenschaften studiert. Davon hat sie irgendwann mal gesprochen, und sie war ganz begeistert, als sie von dem finnischen System mit Studienbeihilfe und Wohngeld hörte. Anfang des Jahres hat sie sich am Abendgymnasium in Tapiola nach der Möglichkeit erkundigt, neben der Arbeit Kurse zu besuchen. Ich habe ihr natürlich zugeredet.»
Miina liefen Tränen über das Gesicht, aber ihre Wangen blieben blass, nur die Nase färbte sich allmählich rot. Sie nahm eine Papierserviette vom Tisch und wischte sich die Tränen ab. Wenn ich nicht gewusst hätte, wie alt Miina war, hätte ich geglaubt, sie führe im Bus noch zum halben Preis.
«Was meinst du, wo Ayan ist?»
«Irgendwo, von wo sie nicht mehr zurückkehrt! Vielleicht ist sie wirklich tot, vielleicht ist sie bei ihren Großeltern im Sudan, oder man hat sie irgendwo anders hingeschickt, an einen Ort, wo sie sich nicht bei mir melden kann. Wenn sie aus eigenem Willen weggegangen wäre, hätte sie es mir erzählt. Wir waren die besten Freundinnen, das hat sie jedenfalls gesagt. Sie hat mich Adey genannt, das bedeutet hellhäutig. Manchmal haben wir unsere Haut verglichen, im Gesicht, an den Handgelenken. So unterschiedlich gefärbt, aus so verschiedenen Welten, und doch so gleichartig …» Nun brach Miinas Stimme endgültig, sie nahm eine zweite Serviette und vergrub das Gesicht darin.
Hinter der Tür erklang Musik, zuerst das Plomplom einer Bassgitarre, dann das Scheppern eines Beckens. Jemand trommelte mit Holzschlegeln, im Sechsachteltakt, hinter den die Bassgitarre immer wieder zurückfiel. Dann wechselte die Schlagzeugerin in den Fünfvierteltakt, eine Mädchenstimme brüllte: «Bis fünf kannst du hoffentlich zählen, du Blondine!» Daraufhin verstummte die Bassgitarre, doch das Schlagzeug spielte unverdrossen weiter. Nun kam auch die Basstrommel beim ersten und vierten Schlag hinzu. Mein Fuß wippte mit. Die Musik versetzte mich in den Probenraum, in dem ich in meiner Jugend gespielt hatte und meistens das einzige Mädchen gewesen war. In Arpikylä, wo ich aufgewachsen war, hatte es nur einen einzigen Mädchenclub gegeben, er wurde von der Kirche organisiert und hatte mich nicht gelockt, obwohl dort auch Pfadfinderinnenkurse organisiert wurden.
Ich ließ Miina in Ruhe weinen. Als sie schließlich weitersprach, klang ihre Stimme wieder hoffnungsvoll.
«Wenn Ayan noch lebt, meldet sie sich irgendwann bei mir. Es deutet doch nichts darauf hin, dass sie tot ist? Die Polizei hat doch nichts dergleichen herausgefunden?» Miina glich einem Hund, den die Besitzerin am Eingang zum Supermarkt angebunden hat. In ihrem Blick lag die gleiche Resignation, gemischt mit einem Fünkchen Hoffnung.
«Wir tun unser Bestes, um die Sache zu klären, aber manche Fälle sind einfach nicht so schnell zu lösen.» Ich gab Miina eine meiner druckfrischen Visitenkarten und bat sie, sich sofort zu melden, wenn sie etwas von Ayan hörte oder sonst irgendetwas erfuhr, was mit ihrem Verschwinden zu tun hatte.
«Und die Polizei informiert im Gegenzug mich, oder? Ich muss es doch hoffentlich nicht im Internet erfahren, wenn meine beste Freundin tot aufgefunden wird.»
«Im Prinzip benachrichtigen wir nur die engsten Angehörigen.»
«Die sind bloß auf dem Papier ihre Angehörigen! Ayan hatte keine andere Wahl, als bei ihnen zu wohnen. Sie wissen nichts von ihren Gedanken und Träumen, davon hat sie nur mir erzählt. Die haben sich ja auch gar nicht dafür interessiert, solange Ayan getan hat, was man ihr sagte! Ich habe ihr erklärt, dass in Finnland erwachsene Menschen niemandem Rechenschaft schuldig
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