Sag mir, wo die Mädchen sind
weil sie der Polizei nicht trauen. Sie beschließen untereinander, was sie sagen wollen, und bleiben dabei, denn ihrer Ansicht nach erlaubt Allah ihnen, Andersgläubige zu belügen», dröhnte Ruuskanen. Vor seiner Versetzung nach Espoo hatte er auf dem Polizeirevier Itäkeskus in Helsinki gearbeitet, wo man ihn hatte loswerden wollen, wie Koivu gerüchteweise gehört hatte. Ich glaubte nicht hundertprozentig an den Klatsch, denn auch um meine beruflichen Veränderungen rankten sich diverse urbane Legenden. Demnach hatte ich den Dienst quittiert, weil ich einen Nervenzusammenbruch erlitten oder aber wahlweise ein Verhältnis mit Taskinen gehabt hatte; dem Vernehmen nach hatte meine Rückkehr zur Espooer Polizei die zweite Variante erneut in Umlauf gebracht. Ich machte mir nichts daraus, solange Jyrkis Frau und mein Mann wussten, dass die Gerüchte frei erfunden waren.
Man behauptete, Ruuskanen habe in zwei eindeutig rassistisch motivierten Fällen, in die aber ausschließlich Vertreter verschiedener ethnischer Minderheiten verwickelt waren, auf Ermittlungen verzichtet, andererseits aber sofort eingegriffen, wenn gebürtige Finnen Migranten angriffen. Die Kollegen hatten sich beklagt, Ruuskanen fasse kriminelle Migranten mit Samthandschuhen an. Deshalb wurde er unter anderem als Muselmanenfreund und Kommunist beschimpft. Nach dem, was er gerade gesagt hatte, erschienen mir diese Vorwürfe absurd.
«Du gehst also von vornherein davon aus, dass die Mitglieder der Familie Ezfahani unzuverlässige Zeugen sind?» Taskinen runzelte die Augenbrauen.
«Natürlich nicht, aber deren Familienkultur ist so anders als unsere, die halten fest zusammen. Obwohl es ja auch bei uns in Finnland schon vorgekommen ist, dass Kinder ihre Eltern decken.»
«Genauso gut kommt ein Außenstehender als Täter in Frage.» Ich goss heißes Wasser in meine Teetasse. Früher hatte ich täglich mindestens zehn Tassen Kaffee getrunken, aber nachdem ich die Espooer Polizei verlassen hatte, war ich allmählich Teetrinkerin geworden.
«Kallios Zelle versteift sich offenbar darauf, dass ein Serienmörder sein Unwesen treibt. Am besten lasst ihr euch von der Honkanen ein Profil erstellen, die hat ja beim FBI einen Kurs besucht. Allerdings braucht man nicht extra nach Amerika zu reisen, um zu erkennen, dass in den drei früheren Fällen die Mädchen spurlos verschwunden sind, während die Leiche von Noor Ezfahani gut sichtbar im Schnee lag, direkt neben einem Wanderweg. Und kommt mir nicht mit der Erklärung, der Täter sei gestört worden. Klar, man kann hier mit Gewalt eine Serie zurechtbiegen, aber für die Ermittlungen ist das kein guter Ausgangspunkt», schnaubte Ruuskanen. In jungen Jahren hatte er mit seinem sportlichen Körper und den lockigen Haaren vermutlich gut ausgesehen, aber jetzt hatte er Geheimratsecken, und sowohl unter den Augen als auch unter dem Kinn hing die Haut schlaff herab. Die Koteletten, die er sich stehen ließ, waren scharf abgegrenzt; sicher musste er jeden Morgen minutenlang an ihnen schnippeln. Er trug Baumwollhose und Sakko in gedämpftem Braun, der oberste Knopf an seinem hellblauen Hemd stand offen und ließ seine dichten krausen Brusthaare sehen.
«Die Kernfamilie, also Noors Eltern und ihre beiden Brüder, sind für heute Mittag zur Vernehmung vorgeladen. Honkanen hat mir erzählt, dass Kallio liebend gern die Wohnungen von Verdächtigen aufsucht, weil die angeblich viel über einen Menschen verraten. Na, die Wohnung der Ezfahanis ist ein wahrer Teppichbasar, falls es dich interessiert, wie aus Tausendundeiner Nacht. Eigentlich hatte ich vor, Frau Ezfahani von Honkanen befragen zu lassen, aber von mir aus kannst du das übernehmen. Mit fremden Männern darf sie nur im Beisein ihres Mannes oder einer anderen Frau sprechen, so ist das bei denen ja meistens.»
Ich fragte nicht nach, wen Ruuskanen mit «denen» meinte. Als wäre das Wort «Muslim» politisch so inkorrekt, dass man es nicht zu verwenden wagte. Indem man von «denen» sprach, bündelte man die Zuwanderer zu einem unbestimmten Gemenge, zu dem ein Asylbewerber aus Afghanistan ebenso gehörte wie ein Moskauer Topjurist, der nach einem langwierigen Auswahlverfahren eine Anstellung in Finnland bekommen hatte. Offenbar war Ruuskanens Reputation als Migrantenverhätschler nichts als ein Witz.
Taskinen hustete trocken. Er hatte schon vor einiger Zeit geklagt, er werde seinen Husten nicht los, habe aber sonst keine Erkältungssymptome. «Willst du damit sagen,
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