Sag mir, wo die Mädchen sind
kann dich hinbringen, und die anderen auch, wenn du willst.»
«Ich will aber mit meinen Freundinnen hin.»
«Dann hole ich dich dort ab. Um wie viel Uhr?» Ich wollte nicht, dass meine dreizehnjährige Tochter ganz allein mit einem gewaltsamen Tod konfrontiert wurde. Die Aufklärung derartiger Verbrechen war seit vielen Jahren Teil meiner Arbeit, doch selbst ich war noch nicht abgestumpft.
«Untersuchst du den Fall?»
«Gewissermaßen. Weißt du, ob Noor einen Freund hatte?»
Iida seufzte. Die Situation war für sie ebenso eigenartig wie für mich, wir fühlten uns beide nicht wohl in unserer Haut. Iida hatte sich praktisch nie zu meinem Beruf geäußert, nur einmal hatte sie gesagt, der Name unserer Polizeiband, «Die Bullen», sei voll peinlich. Wir einigten uns darauf, dass ich sie abholen würde. Vom Präsidium hatte ich nur knapp einen Kilometer nach Hause, ich würde es ohne weiteres schaffen, den Wagen zu holen und um halb fünf da zu sein. Ich wusste, dass ich mir selbst etwas vormachte: In Wahrheit drängte es mich, die Stelle zu sehen, wo Noors Leiche gefunden worden war, und die Verabredung mit Iida bot mir dafür einen halbwegs plausiblen Vorwand.
Auf dem Heimweg wurde ich ziemlich nass, denn der Schnee war getaut, und die Autofahrer, die den Wetterumschlag noch nicht verinnerlicht hatten, fuhren sorglos durch die Pfützen und spritzten die Fußgänger nass. Zudem hatte sich mitten auf dem Zebrastreifen eine riesige Lache gebildet. Taneli war zu einem Freund gegangen, nur die Katzen waren zu Hause. Ich schnappte mir den Autoschlüssel und fuhr nach Olari. Die Feuchtigkeit, die von mir ausging, ließ die Fenster im kalten Auto beschlagen, ich musste die Heizung voll aufdrehen, um einigermaßen sehen zu können.
Ich stellte den Wagen vor der Schule in Olari ab. Vom Schulhof führte bereits ein Trampelpfad zur Fundstelle. Das Gebiet war noch abgeriegelt, die technischen Ermittlungen dauerten also noch an. Die beiden Streifenbeamten, die Wache hielten, kannte ich nicht. Etwa zwanzig Jugendliche hatten sich bei der Absperrung versammelt, dem Alter nach hauptsächlich aus Noors Schulklasse, auch einige Jungen waren dabei. War einer von ihnen Noors Freund? Am Fuß einer Kiefer häuften sich Kerzen und Blumen, dort war Noors inoffizieller Altar. Nelli Vesterinen stand neben Iida und Anni, ihre Rastalocken und ihr bunter Mantel waren außer den Blumen die einzigen Farbtupfer.
Ich umarmte Iida und Anni. Nelli Vesterinen beachtete mich nicht, und plötzlich erschien es mir taktlos, sie anzusprechen. Niemand weinte laut, aber die Trauer lag schwer auf den jungen Menschen. Viele standen Arm in Arm beieinander.
Als Iida sich schließlich abwandte, um zu gehen, fasste sie nach meiner Hand wie ein kleines Mädchen. Sobald wir außer Hörweite waren, fragte sie mit dünner, ängstlicher Stimme:
«Mutti, ihr klärt das doch auf? Die Polizei wird Noors Mörder doch fangen?»
«Ganz bestimmt.» Noch nie hatte ich meiner Tochter etwas aus so vollem Herzen versprochen.
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6
N atürlich kommt uns jede Verstärkung gelegen, es sind ja so viele Leute zu befragen. Willkommen an Bord!» Kommissar Markku Ruuskanen lächelte verbindlich, doch seine Augen funkelten wütend. Ich saß mit ihm und Hauptkommissar Jyrki Taskinen im Konferenzzimmer in der Chefetage des Polizeigebäudes. Noch am Mittwochabend hatte ich Taskinen angerufen und ihm von meiner Hypothese erzählt, zwischen dem Mord an Noor Ezfahani und dem Verschwinden der drei anderen Migrantenmädchen bestehe ein Zusammenhang. Ruuskanens Dezernat hatte mehrere Körperverletzungen zu bearbeiten und musste zudem die Voruntersuchung über den Tod eines Ehepaars abschließen, bei dem lange unklar gewesen war, wer die Messerstecherei begonnen hatte und wer zuerst gestorben war. Es gab also Arbeit genug, und Noors Ermordung war vorläufig ein sogenannter dunkler Fall ohne Hauptverdächtigen. Die Ermittler des Gewaltdezernats und der Ordnungspolizei hatten am Mittwoch mit vereinten Kräften herauszufinden versucht, wo Noor sich in den letzten Stunden ihres Lebens aufgehalten hatte, doch das Ergebnis war mager. Den Familienangehörigen zufolge war Noor wie immer kurz vor drei Uhr aus der Schule gekommen und hatte gegen sechs Uhr am gemeinsamen Abendessen teilgenommen. Danach war sie laut Aussage ihres Vaters spazieren gegangen und nicht zurückgekehrt.
«Die langjährige Erfahrung zeigt allerdings, dass man muslimischen Familien nicht glauben kann,
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