Sag mir, wo die Mädchen sind
Meldungen eingegangen, die ich nur kurz überflog. Die Ermittlungssekretärin würde alle Hände voll zu tun haben, um die Hinweise zu ordnen.
Eine Fertigsuppe – Tomate mit Basilikum – musste als Mittagessen genügen. Als Lehrerin an der Polizeifachhochschule hatte ich mir angewöhnt, immer einen Energieriegel und Fertigsuppen bei mir zu haben. Viele meiner ausländischen Schülerinnen waren so eifrig gewesen, dass sie mir auch nach dem Unterricht noch Fragen stellten, weshalb meine Pausen oft kurz ausgefallen waren. Ich schlürfte die Suppe aus einem Pappbecher, während ich im Lift nach unten fuhr, um Frau Ezfahani abzuholen. Auch ihr Vorname lautete Noor.
Der Wartesaal war voll, doch die Ezfahanis stachen von allen anderen ab. Sie waren keineswegs die einzigen Migranten, aber sie verströmten eine tiefe Trauer und wirkten wie eine zusammengeschweißte Gruppe, obwohl nur der älteste Mann und einer der jungen Männer sich im Arm hielten. Frau Ezfahani stand mit gesenktem Kopf am Rand. Sie trug einen bodenlangen, dunkelblauen Mantel und ein weißes Kopftuch. Puustjärvi und Lehtovuori waren ebenfalls anwesend, und Koivu traf kurz nach mir ein. Jedes Familienmitglied wurde von einem anderen Ermittler vernommen, das war die Taktik, die Ruuskanen gewählt hatte. Ich war nicht davon überzeugt, dass dadurch Zeit gespart wurde, denn die Ergebnisse mussten nachträglich verglichen und nach Lücken und Widersprüchen untersucht werden. Auch Noors Mutter konnte nicht automatisch von der Liste der Verdächtigen gestrichen werden. Im afghanischen Gefängnis hatte ich junge Frauen angetroffen, denen die Zelle Schutz vor den eigenen Müttern bot, die versucht hatten, ihre zu westlich orientierten Töchter zu töten. Eine der jungen Frauen hatte schwere Verletzungen davongetragen, als ihre Mutter sie mit heißem Öl übergossen hatte, weil sie sich weigerte, den von der Familie ausgewählten, dreißig Jahre älteren Mann zu heiraten.
Dennoch dachte ich vor allem daran, dass die Frau, die vor mir stand, ihre einzige, noch nicht einmal volljährige Tochter verloren hatte.
«Frau Ezfahani? Kommissarin Maria Kallio, guten Tag. Wir beide gehen nach oben, kommen Sie bitte mit.»
Die Frau sagte etwas zu ihrer Familie, in einer Sprache, von der ich kein Wort verstand. Die Männer murmelten grimmig, machten jedoch keinen Versuch, uns aufzuhalten. Ich führte die Frau zum Aufzug. Sie hatte keine Handtasche; ihre Hände, die in hellbraunen, über den Knöcheln verschlissenen Handschuhen steckten, umklammerten ein besticktes Taschentuch. Ich brachte sie geradewegs in mein Dienstzimmer, um ihr den Anblick des Fotos ihrer toten Tochter im Ermittlungsraum zu ersparen, und warf im Vorbeigehen die Tür ins Schloss. Ruuskanens Passworte halfen nicht viel, wenn die Tür zu unserem Ermittlungsraum offen stand. Ich fragte Frau Ezfahani, ob sie Kaffee oder Tee wolle, doch sie schüttelte den Kopf.
Die Vernehmung begann zähflüssig. Ich fragte die Frau nach ihren Personalien. Sie war vor achtunddreißig Jahren im April in der iranischen Provinz Ilam geboren. Der genaue Tag war nicht bekannt, doch da sie für die finnische Personenkennziffer ein exaktes Datum brauchte, hatte sie den achten April zu ihrem Geburtstag erkoren. Die Familie war vor sechs Jahren nach Finnland gekommen, als einem Kontingent Flüchtlinge aus einem Lager in Afghanistan Asyl gewährt wurde. Dorthin hatten sie fliehen müssen, weil der Großvater Reza Ezfahani Schwierigkeiten mit den iranischen Behörden bekam, nachdem er sich geweigert hatte, für sein Metzgergeschäft Schutzgelder zu bezahlen. All das hatte ich in den Unterlagen gelesen, und Frau Ezfahani bestätigte es durch Nicken, Kopfschütteln und einsilbige Laute. Sie hatte die ersten vier Jahre ohne Sprachkenntnisse in Finnland gelebt, und auch nach zwei Jahren Unterricht war ihr Finnisch lückenhaft. In meiner ersten Zeit bei der Espooer Polizei war ich gelegentlich zu Hilfe gerufen worden, wenn jemand gebraucht wurde, der mit älteren Finnlandschweden oder Besuchern aus dem Nachbarland Schwedisch sprechen konnte, denn die offizielle Zweisprachigkeit funktionierte bei der Polizei nicht. Jetzt hätten finnische Polizisten Sprachen beherrschen müssen, von denen in meiner Schulzeit in Arpikylä noch nie jemand gehört hatte.
Frau Ezfahani hatte weder die Handschuhe ausgezogen noch den Mantel aufgeknöpft. Er war so weit geschnitten, dass die Umrisse ihres Körpers nur zu erahnen waren. Zur Uniform der
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