Sag mir, wo die Mädchen sind
Mädchen.» Heini weinte, während sie sprach. «Es will mir einfach nicht in den Kopf, dass bei uns in Finnland so etwas passiert!»
«Ist Noor von ihrem Vater bedroht worden?»
«Nicht nur von ihrem Vater und ihren Brüdern, sondern von sämtlichen Männern in der Familie. Auch der Großvater, ein Onkel und zwei Vettern wohnen in Espoo. Die halten alle zusammen. Noor hätte nicht aufs Gymnasium gehen dürfen, wenn Sylvia die Männer nicht ins Gebet genommen hätte. Auf Sylvia schienen sie sogar zu hören, aber trotzdem ist Noor umgebracht worden. Das ist einfach furchtbar! Was soll ich den Mädchen sagen?»
«Das Wichtigste ist jetzt, dass du uns möglichst viel über Noor erzählst. Wie du weißt, unterliegt die Polizei der Schweigepflicht. Die Skandalpresse wird von unserem Gespräch nichts erfahren.»
Um mein Gewissen zu beruhigen, redete ich mir ein, dass Heini Korhonen dringend einen Gesprächspartner brauchte, und schwor mir, alle Informationen, die ich von ihr bekam, an Ruuskanens Dezernat weiterzuleiten.
«Wir verfolgen im Club keineswegs die Absicht, die Mädchen ihrer eigenen Kultur zu entfremden, sondern fördern die kulturelle Begegnung», sagte Heini. Es klang wie eine auswendig gelernte Litanei. «Aber wir helfen den Mädchen, für ihre Rechte einzustehen. Noor hat um Rat in Kleidungsfragen gebeten. Was hätten wir ihr anderes sagen können, als dass sie das Recht hat, sich so zu kleiden, wie sie will? Und nun das!»
«Hatte Noor das Kopftuch abgelegt?»
«Teilweise, zumindest in der Schule und hier. Im Familienkreis hat sie es noch getragen.»
«Weißt du etwas über ihr Privatleben? Hatte sie einen Freund?»
«Die Polizei denkt so stereotyp! Warum könnte es nicht ebenso gut eine Beziehung zu einer Frau sein? Aber es stimmt, Noor hatte einen Freund, einen Finnen. Auch seinetwegen wollte sie sich westlich kleiden. Jetzt kommt jemand … Hallo, Nelli! Weißt du es schon? Entschuldigung, ich muss jetzt Schluss machen.» Damit unterbrach Heini die Verbindung.
Jeder Polizist wusste, dass es ratsam war, mit der Suche nach dem Schuldigen im engsten Umfeld des Opfers zu beginnen, und dass bei Ehrenmorden der Täter meist ein männlicher Verwandter war, in der Regel ein Bruder oder der Vater des Opfers. Natürlich würden Ursula Honkanen und ihre Kollegen als Erstes die engsten Verwandten befragen, zumal die Noor ja am besten kannten.
Da die Todeszeit in der Pressemitteilung nicht erwähnt worden war, suchte ich im Intranet der Espooer Polizei danach. Die Seite baute sich extrem langsam auf, offenbar hatte sie gerade starken Zuspruch.
Die Sonne schien strahlend, die Temperatur stieg zum ersten Mal seit Monaten über den Gefrierpunkt. Es schien glatt zu sein, denn auf der Autobahn drosselten einige Wagen die Geschwindigkeit. Ich wurde Zeugin eines Beinahe-Unfalls, als ein roter Corolla es gerade noch vermeiden konnte, auf einen bremsenden Škoda aufzufahren. Das Wetter wirkte frühlingshaft, doch durch das Fenster zog es, obwohl man es nicht einmal öffnen konnte.
Der genaue Zeitpunkt von Noors Tod war unbekannt, aber wahrscheinlich hatte sie mehrere Stunden im Wald gelegen, vielleicht sogar über Nacht. Aber wenn sie über Nacht nicht nach Hause gekommen war, hätte sich ihre Familie doch Sorgen machen müssen? Der Ablauf der Ereignisse schien allzu klar, und das dämpfte meinen Eifer, den Fall für unsere Zelle zu reklamieren. Noor hatte rebelliert und sich mit einem Ungläubigen abgegeben, deshalb war sie getötet worden. Damit war die Theorie vom Serienmörder entweder hinfällig, oder Noors Ermordung hatte mit unseren Vermisstenfällen nichts zu tun.
Gegen drei Uhr rief ich Iida an.
«Hallo, ich bin’s. Die SMS , die du bekommen hast, entspricht leider der Wahrheit. Noor Ezfahani ist getötet worden.»
«Ich weiß. Wir hatten IT -Unterricht, da haben die Jungen im Internet nachgeguckt», antwortete Iida mit zittriger Stimme. Sie wollte sich gleich nach der Schule mit Anni und ein paar anderen Mädchen aus dem Club treffen, um Blumen und Kerzen an die Stelle zu bringen, wo Noor gestorben war.
«Kann sein, dass das noch nicht geht. Das Gebiet ist wahrscheinlich abgesperrt, und wenn Außenstehende da herumlaufen, erschweren sie die Ermittlungen.»
«Mutti! Red nicht so polizeimäßig! Wir sind keine Außenstehenden, sondern Noors Freundinnen.»
«Ein Grund mehr, die Ermittlungen nicht zu behindern. Wie wäre es, wenn du zuerst nach Hause gehst und wir am Abend gemeinsam hinfahren? Ich
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