Sag mir, wo die Mädchen sind
weiblichen Lehrkräfte an der Polizeischule in Afghanistan gehörten lange dunkelgrüne Röcke und Kopftücher in derselben Farbe. Nur Muna hatte sich für eine lange Hose entschieden, wie sie die Männer trugen, obwohl sie sich des Risikos bewusst war.
«Im Rock kann man nicht so schnell klettern», hatte sie gesagt. «Es ist mir wichtiger, handlungsfähig zu sein, als darauf zu achten, dass meine Kleidung keinen Anstoß erregt. Die nächste Generation wird sich darüber hoffentlich keine Gedanken mehr zu machen brauchen.»
Unter dem Mantel von Noor Ezfahani senior blitzte eine ebenfalls weit geschnittene Hose hervor. Die Schuhe hatten einen kurzen Schaft und wirkten allzu dünn für das Matschwetter. An den Kappen hatte die Feuchtigkeit zahllose Streifen hinterlassen.
«Wann hast du Noor zuletzt gesehen?» Mein Instinkt gebot mir, Frau Ezfahani zu siezen, doch ich wusste, dass Duzen leichter zu verstehen war, denn in den finnischen Medien oder in den Unterhaltungssendungen im Fernsehen siezte ja niemand mehr.
«Dienstag. Sechs.»
«Du meinst am Dienstag, dem zweiten März, um sechs Uhr?»
«Ja.»
«Wo war Noor da?»
«Zu Hause. Ging aus.»
«Wohin? Zu wem?»
«Weiß nicht.»
«Ist es in deiner Familie nicht üblich zu fragen, wohin die minderjährige Tochter geht?»
Frau Ezfahani gab keine Antwort. Ihre Nase rötete sich, sie schneuzte sich laut und faltete das Taschentuch anschließend ordentlich zusammen.
«Hat es euch nicht interessiert, wohin Noor ging?»
Immer noch keine Antwort.
«Hatte Noor einen Freund?»
«Nein!»
«Die Polizei hat anderslautende Informationen.»
Frau Ezfahani schwieg. Unter ihrem Kopftuch rollten Schweißperlen hervor, aber sie knöpfte den dicken Mantel immer noch nicht auf. Gebot die islamische Kultur, über Tote nichts Schlechtes zu sagen, musste eine unpassende Beziehung deshalb verheimlicht werden?
Ich erkundigte mich noch einmal nach dem Freund.
«Die Polizei weiß, dass Noor einen finnischen Freund hatte. Warum hat Noor es euch nicht erzählt?»
Frau Ezfahani wurde knallrot. «Das war kein Freund! Es war ein dummer Junge, der mit Noor sein wollte, aber Noor mochte ihn nicht. Der schlechte Junge hat meine Noor getötet, glaub mir, finnische Polizistin!» Sie seufzte tief und knüllte das Taschentuch zu einer Kugel. Dann trocknete sie sich mit der behandschuhten Hand die Stirn.
«Hast du oder hat deine Familie Beweise dafür, dass dieser Junge der Täter ist? Wie heißt er?»
«Vergessen.» Nach ihrem Ausbruch sprach Frau Ezfahani nur noch gebrochen Finnisch, als würde sie sich sprachunkundiger stellen, als sie es war. «Finnisch Name schwierig. Bleibt nicht in Kopf.»
«Hat der Junge Noor zu Hause besucht?»
«Nein! In Schule.»
«Ein Mitschüler von Noor?»
Wieder heftiges Nicken. «Böser böser Junge.» Frau Ezfahanis Gesicht war feucht von Tränen und Schweiß. Es war fein geschnitten, doch sie besaß nicht die atemberaubende Schönheit ihrer Tochter. Der älteste Sohn der Ezfahanis war einundzwanzig, sie hatte ihn also mit siebzehn bekommen.
«Wann können wir Noor begraben? Schon zwei Tage vorbei.»
«Woher weißt du, dass Noor am Dienstag gestorben ist? Sie wurde doch erst gestern gefunden.»
Frau Ezfahani zuckte zusammen, schüttelte den Kopf und murmelte etwas in ihrer Sprache. Ich überlegte, ob ihr Lapsus als Durchbruch zu betrachten war. Es war uns noch nicht gelungen, den genauen Zeitpunkt von Noors Tod festzustellen. Ich fragte, was Noor beim gemeinsamen Abendessen zu sich genommen hatte.
«Ich habe Reis gemacht und Aubi … wie heißt?»
«Auberginen?»
«Auberginen, ja, und Huhn. Um fünf wir essen. Dann Noor sagt, dass geht, und ist gegangen.»
Für die Autopsie am nächsten Tag war diese Information nützlich, sie konnte helfen, die Todeszeit einzugrenzen. Noors letzte Mahlzeit war sehr einfach gewesen. War es denkbar, dass eine Mutter ihrer Tochter Auberginen mit Huhn und Reis vorsetzte und anschließend zuließ, dass sie von Großvater, Vater oder Bruder getötet wurde? Die Mutterrolle verhinderte Gewalt gegen Kinder nicht unbedingt. Ich erinnerte mich an eine sechzehnjährige Afghanin, die ihr drei Monate altes Baby getötet hatte, um es Allah zu opfern. Sie war ins Gefängnis gekommen, allerdings nicht wegen ihrer Tat, sondern weil sie danach eine Psychose entwickelt und gedroht hatte, den Gott zu töten, der ein solches Opfer von ihr gefordert hatte. Eigentlich hätte sie in eine Nervenheilanstalt gehört, aber das Gefängnis
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