Sag Onkel - Psycho-Thriller (German Edition)
hinzu.
Sie nahm einen weiteren Zug von ihrer Zigarette, diesmal entschlossener, dann drückte sie sie in einem kleinen Plastikaschenbecher aus. »Worüber?«
»Ich habe gerade seine Leiche identifiziert.« Ich erwartete, dass sie etwas darauf sagen würde. Als eine Antwort ausblieb, zwang ich mich, einen Schluck Kaffee zu trinken, obwohl ich es nicht wirklich wollte, und fuhr fort: »Ich war überrascht, wie anders er aussah. Ich hatte vergessen, dass ich selbst fünfunddreißig bin und er also sechsundfünfzig war. Erst jetzt ist mir klar geworden, wie lange es her ist, dass ich ihn gesehen habe. All die Zeit, die ganzen Jahre erscheinen mir plötzlich realer.«
»Ja, so ist es.«
Ich fühlte mich wie ein Vertreter, der seine Verkaufsstrategie vergessen hat. »Die Zeit hat so ihre Art, das zu tun.«
»Das liegt daran, dass die Zeit ein Dieb ist«, sagte Louise mit monotoner Stimme. »Und wie alles, was gut ist, ist er schon weg, bevor dir bewusst ist, dass er da war.«
Boone lehnte mit dem Rücken an der Wand des Getränkestands und rutschte langsam auf den Boden. Er sah aus, wie ich mich fühlte, als hätte ihn jemand in den Magen geschlagen. Kräftig. »Whoa«, sagte er etwa zum fünften oder sechsten Mal seit ich die ganzen Ereignisse zu Ende erzählt hatte.
In der darauf folgenden Stille zirpten fröhliche Grillen, blind und taub gegenüber meiner Misere. Sie machten mir bewusst, dass wir die Eindringlinge, die Fremden hier waren. Ich beneidete sie um ihre Fähigkeit, gehört, aber nicht gesehen zu werden. Am liebsten hätte ich mich zu ihnen gesellt in den Schutz des hohen Grases, wo sie versteckt und geschützt waren in ihrer Unsichtbarkeit, in ihrer Geborgenheit und der Sicherheit, die ihre große Zahl ihnen gab.
Aber in diesem Hier und Jetzt gab es nur Boone und mich und die Dinge, die wir beide wussten. Es war mir bis zu diesem Augenblick nicht klar gewesen, dass die Preisgabe dessen, was ich an diesem Tag gesehen und gehört hatte, nicht nur etwas von der Bürde von mir nahm, sondern die Last auch auf seine Schultern verlagerte. Vielleicht war es nicht fair, aber so war unsere Beziehung damals, die Freundschaft der Jugend – Freundschaft in ihrer reinsten Form – mit allen Problemen und Schwierigkeiten.
»Michael Ring war immer ein Arschloch«, sagte Boone. »Aber, Herr im Himmel, warum hat er Angie so etwas angetan? Kranker Scheißkerl, sie ist doch bloß ein kleines Mädchen! Bist du sicher, dass es ihr gut geht?«
»Ich weiß nicht, ich – ich glaube schon. Sie wollen sie zu so einem Arzt bringen, den mein Onkel kennt, einen Typen, der es für sich behält, so wie sie es wollen.«
»Der ist so tot«, murmelte Boone. »Michael Ring ist so was von verdammt tot.«
»Was soll ich tun?«
Er schien verwirrt. »Was meinst du?«
»Boone, was, wenn er ihn umgebracht hat?«
Er riss ein Büschel Gras aus der Wiese und begann, es in den Händen zu verdrehen. Boone hatte Onkel auch immer nahegestanden, und er blickte genauso zu ihm auf wie ich. Aber er hatte die Geschichten und Gerüchte gehört und wusste, dass es da ein Geheimnis gab. Bereiche, in die niemand vordrang, eine dunkle Seite, über die wir niemals sprachen, außer in sorglich überdachten Formulierungen, wenn auch mit dem Unterton der Heldenverehrung.
Niemand legt sich mit meinem Onkel an.
Ja, dein Onkel ist ein böser Mann, der lässt sich nichts gefallen! Meinst du, er ist bei der Mafia?
Weiß ich nicht, Alter. Vielleicht. Er redet nicht darüber.
Dein Onkel ist so cool.
Von einer Sekunde auf die andere hatte sich alles geändert. Den Luxus der Albernheit, der Comic- oder Teenagerversion von Heldentum hatten wir eingebüßt. Das war jetzt mehr als Gerede, mehr als leere Worte, Prahlereien und Mord- und Totschlagsfantasien, nicht mehr frei erfunden, wie ein Horrorfilm im Autokino. Diesmal war es nur allzu real.
»Er hat ihm vermutlich nur so richtig in den Arsch getreten«, sagte Boone.
»Aber was, wenn er ihn wirklich umgebracht hat?«
Boone saß einen Moment lang schweigend da. »Wenn Michael Ring Angie das angetan hat, hat er es verdammt noch mal verdient. Scheiße, wenn ich eine Schwester hätte …«
»Hast du aber nicht.«
»Ja, aber wenn …«
»Du hast aber keine.«
»Schön.« Er seufzte, schleuderte das inzwischen zerdrückte Grasbüschel beiseite. »Dann eben meine Mutter. Die habe ich … na ja, so etwas in der Art. Wenn jemand meiner Mutter so etwas angetan hätte, würde ich ihn verdammt noch mal selber
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