Sagen aus dem Rheinland
Nase blutete, ohne daß er irgend eine Ursache dazu wußte.
So geschah es denn einmal (und wahrscheinlich oft), daß nicht der Übeltäter sondern derjenige verurteilt wurde, der die dünnsten Nasenadern hatte. Und als ein ehrsamer Bürger so zum Tode geführt werden sollte, ergriff es ihn so tief, ob dieses einfältigen Zeichens willen sterben zu sollen, daß er gar nicht anders denken konnte, als daß Gott ein anderes für ihn aufgespart habe. Und als er mit dem Henker an einem Lindenbaum vorbeikam, der voll der schönsten grünen Blätter hing, da trieb es ihn aus einer wunderbaren Kraft, herauszuschreien: »So gewiß der Baum im Augenblick alle Blätter verliert, so gewiß bin ich unschuldig ...« Und indem er dieses sagte, ehe noch die Menge es ganz verstanden hatte, begann ein Rieseln und ein Wehen, fielen die grünen Blätter mitten in der Sommerzeit, als noch die Bienen in den Blüten summten, hernieder, daß der Platz grün wurde, wie festlich bestreut, und daß jeder, in Erschauerung vor dem Wunder, auch mit in dem Rieseln stehen wollte, das ihnen allen wie eine Gnade war, wie ein niederschwebender Segen. Und so erwiesen sie dem Angeklagten alle Ehre, und da sie dem Stein nicht mehr glaubten, warfen sie ihn über die Mauer in den Wassergraben, wo er schon bald von andern seiner Art nicht mehr zu unterscheiden war.
Der Wolf und der Tannenzapf
Zu Aachen im Dom zeigt man an dem einen Flügel des ehernen Kirchentors einen Spalt und das Bild eines Wolfs nebst einem Tannenzapfen, beide gleichfalls aus Erz gegossen. Die Sage davon lautet: vor Zeiten, als man diese Kirche zu bauen angefangen, habe man mitten im Werk einhalten müssen aus Mangel an Geld. Nachdem nun die Trümmer eine Weile so dagestanden, sei der Teufel zu den Ratsherrn gekommen, mit dem Erbieten, das benötigte Geld zu geben unter der Bedingung, daß die erste Seele, die bei der Einweihung der Kirche in die Türe hineinträte, sein eigen würde. Der Rat habe lang gezaudert, endlich doch eingewilligt und versprochen, den Inhalt der Bedingung geheim zu halten. Darauf sei mit dem Höllengeld das Gotteshaus herrlich ausgebaut, immittelst aber auch das Geheimnis ruchtbar geworden. Niemand wollte also die Kirche zuerst betreten und man sann endlich eine List aus. Man fing einen Wolf im Wald, trug ihn zum Haupttor der Kirche und an dem Festtag, als die Glocken zu läuten anhuben, ließ man ihn los und hineinlaufen. Wie ein Sturmwind fuhr der Teufel hinterdrein und erwischte das, was ihm nach dem Vertrag gehörte. Als er aber merkte, daß er betrogen war und man ihm eine bloße Wolfsseele geliefert hatte, erzürnte er und warf das eherne Tor so gewaltig zu, daß der eine Flügel sprang und den Spalt bis auf den heutigen Tag behalten hat. Zum Andenken goß man den Wolf und seine Seele, die dem Tannenzapf ähnlich sein soll. – Andere erzählen es von einer sündhaften Frau, die man für das Wohl der ganzen Stadt dem Teufel geopfert habe und erklären die Frucht durch eine Artischocke, welche der Frauen arme Seele bedeuten soll.
Der Zauberring
In der Nähe des Klosters von Grevenmacher an der Mosel wohnte einst ein Mann, der einen Zauberring besaß. Sein Nachbar, ein reicher Bauer, hatte sich mit den Klosterherren entzweit. Um den Abt einmal ungestraft gründlich ärgern zu können, erbat der Streitsüchtige sich für einen Tag den Zauberring. Nur mit großem Widerstreben ging der Besitzer des Ringes darauf ein, mußte er doch während der ganzen Zeit, in der er das seltsame Schmuckstück nicht am Finger hatte, ständig in tiefem Schlafe liegen. Nur durch große Versprechungen ließ er sich schließlich bewegen, den Wunsch des Zudringlichen zu erfüllen.
Als dann der Bauer den schmalen Eisenreifen über den Finger streifte, ward er sogleich in eine Katze verwandelt. Kaum war es dunkel geworden, da kletterte er an dem Weinstocke des Klostergebäudes bis zu der Fensterbank vor des Prälaten Studierzimmer, öffnete den Fensterriegel, indem er die Pfote durch eine zerbrochene Scheibe hineinsteckte, warf voll Schadenfreude Bücher und Schriftwerk vom Schreibtisch auf den Boden und goß das bis an den Rand gefüllte Tintenfaß darüber aus.
Zweimal wiederholte er den Schabernack, der den Abt weidlich in Harnisch brachte. Beim vierten Male aber ging es ihm übel. Der gewitzte Prälat stand hinter dem Fenstervorhang auf der Lauer. Wie nun die Pfote durch die Scheibe hineinlangte, hieb er sie blitzschnell mit einem großen Messer ab und verbrannte sie im
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