Sagen des klassischen Altertums
zurückrauschte, gab mir einen Wink, den Sohn nicht ungeehrt zu lassen; sie werde persönlich bei seiner Leichenfeier erscheinen. Was die Trojaner betrifft, so werden sie sich schwerlich mehr ermutigen, obgleich der Pelide dahin ist, solange nur du und ich und der Atride Agamemnon noch am Leben sind!« »Ich will mich in deine Meinung fügen«, erwiderte der Tydide, »wenn Thetis wirklich selbst heute erscheint. Ihr Wunsch soll auch dem dringendsten Kampfe vorangehen.«
Kaum hatte Diomedes diese Worte gesprochen, als die Meereswellen ans Strande sich teilten und die Gemahlin des Peleus, dem leichten Hauche des Morgens vergleichbar, aus den Fluten herauftauchte und in der Danaer Mitte hineintrat. Mit ihr kamen Nymphen als Dienerinnen, die aus den Umhüllungen ihrer Schleier herrliche Kampfpreise hervorzogen und vor den Augen der Achajer auf dem Felde ausbreiteten.
Thetis selbst ermunterte die Helden, mit den Kampfspielen den Anfang zu machen. Da erhub sich der Sohn des Neleus, Nestor, doch nicht um zu kämpfen, denn das hohe Alter hatte ihm die Glieder steif gemacht, sondern zur lieblichen Rede und pries die holde Tochter des Nereus. Er erzählte von ihrer Hochzeit mit Peleus, bei der die Unsterblichen selbst als Gäste schmausten und die Horen göttliche Speisen in goldenen Körben herbeibrachten und mit ambrosischen Händen sie aufschichteten. Die Nymphen mischten den Göttertrank in goldene Becher, die Grazien führten ihren Reigen, und die Pieriden sangen. Der Äther und die Erde, Sterbliche und Unsterbliche, alles nahm damals an der seligen Freude teil.
So erzählte Nestor und pries dann die ewigen Taten des Peliden, der diesem Ehebund entsproßt war.
Seine Rede goß sanften Trost in die Seele der betrübten Mutter, und die Argiver, obwohl voll Kampflust, hörten doch mit Wonne zu und stimmten in sein Lob des Helden jubelnd ein. Thetis übergab dem Nestor als Vermächtnis zwei der herrlichsten Rosse ihres Sohnes; dann schied sie aus den mitgebrachten Gaben als Preis für den Sieg im Wettlaufe zwölf stattliche Kühe, jede mit einem saugenden Milchkalbe; sie waren eine Beute ihres Sohnes, der sie einst kämpfend von den Berghöhen des Ida hinweggetrieben. Nun erhuben sich unter den griechischen Helden Teucer, der Sohn des Telamon, und der Lokrer Ajax, des Oïleus schneller Sohn, und entkleideten sich zum Laufe bis an den Gürtel. Agamemnon steckte das Ziel des Wettlaufs; wie Habichte stürmten sie dahin, und rechts und links jauchzten ihnen die zuschauenden Griechen Beifall zu.
Schon waren beide dem Ziele nah, als dem Teucer ein Tamariskengesträuch den Weg versperrte, daß er strauchelte und fiel. Laut schrien die Danaer, der Lokrer aber stürmte an ihm vorbei, ergriff das Ziel und führte die Kühe triumphierend weg zu den Schiffen; den Teucer führten hinkend die Seinigen davon. Ärzte wuschen ihm das Blut vom Fuße und wickelten ihn sorgfältig in ölgetränkte Binden ein.
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Gustav Schwab – Sagen des klassischen Altertums
Zum Ringkampfe standen jetzt zwei andere Helden auf, Diomedes und der mächtigere Ajax, der Telamonssohn. Beide rangen vor den neugierigen Blicken ihrer Genossen mit gleicher Kraft und Erbitterung, endlich aber umstrickte Ajax den Tydiden mit den nervigen Händen und schien ihn erdrücken zu wollen.
Dieser aber, ebenso gewandt und stark, beugte zur Seite aus, stemmte die Schultermuskeln an, hob den gewaltigen Gegner in die Höhe, daß seine Arme abglitten, und warf ihn mit einem Stoße des linken Fußes auf den Boden. Die Zuschauer jauchzten laut auf. Ajax aber raffte sich empor und begann den Kampf aufs neue, und so wüteten sie, wie zwei Stiere im Gebirg ihre eisernen Köpfe gegeneinanderstoßen; diesmal faßte Ajax den Diomedes an den Schultern und warf ihn wie einen Felsen mit unwiderstehlicher Kraft auf den Boden, daß er dahinrollte und die Helden umher Beifall jubelten. Doch auch Diomedes raffte sich empor und bereitete sich zum dritten Gange. Da stellte sich Nestor zwischen beide hinein und sprach: »Macht diesem Ringen doch ein Ende, Kinder; wir alle wissen auch ohnedem, daß ihr, seit wir den großen Achill verloren haben, die Tapfersten unter allen Argivern seid!« Ein Ruf der Zustimmung hallte durch die Luft aus dem zuschauenden Heere, die Ringer wischten sich den Schweiß von der Stirne, fielen einander in die Arme und küßten sich. Thetis beschenkte sie mit vier gefangenen Sklavinnen, die sich durch Fleiß und Herzensgüte auszeichneten und die Achill einst auf
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