Sagrada: Mystery-Thriller (German Edition)
1926
I m Verlauf der Tragischen Woche waren allein in Barcelona an die fünfzig Gebäude in Brand gesteckt worden, die in einer irgendwie gearteten Beziehung zur Kirche standen. Als erste hatten die von den Pieristen geführte Schule des heiligen Anton und die romanische Kirche San Pablo del Campo gebrannt. Im Arbeiterviertel von Gracia hatte die Kirche des heiligen Johannes an der Plaza della Virreina das gleiche Schicksal erlitten, außerdem waren im Ensanche wie auch im Ribera-Viertel mehrere romanische Kapellen in Flammen aufgegangen. Priester hatten sich in Privathäuser geflüchtet und die Stadt in Zivilkleidung verlassen, wobei sie sich unter die Fahrgäste öffentlicher Verkehrsmittel gemischt hatten.
Voll tiefer Sorge hatte Antonio Gaudí diese Vorfälle aus seinem Haus im Park Güell verfolgt. Jedes Mal, wenn am Himmel über Barcelona eine neue Rauchwolke aufstieg, fürchtete er, die Sagrada Familia könne Opfer der Anarchisten geworden sein. Rasch ordnete er die jeweilige Stelle dem Stadtplan zu und atmete jedesmal erleichtert auf, wenn er merkte, dass seine Befürchtung grundlos war. Was die Presse berichtete, war nicht dazu angetan, seine Besorgnis zu vermindern. So hieß es, auf dem Friedhof des Nonnenklosters an der Plaza del Pedró habe eine entfesselte Weiberhorde die Gräber geöffnet und die Gebeine der dort beigesetzten Ordensfrauen bis zur Plaza de Sant Jaume verstreut. Im Boletín Oficial Eclesiástico vom 9. August 1909 hieß es, drei Priester seien umgekommen und zwölf Kirchen sowie vierzig Gemeindehäuser zerstört worden.
Nie hatte er diese entsetzlichen Vorfälle aus seiner Erinnerung zu tilgen vermocht, und weil er nicht wollte, dass seine Befürchtungen eines Tages einträfen, verwendete er zum Bau seines Gotteshauses kein Holz, sondern ausschließlich Stein, das unbrennbare und unvergängliche Material, den Fels, auf den Jesus in Gestalt des Petrus seine Kirche gebaut hatte. Dennoch hatte den Architekten in all den fünfzehn Jahren Nacht für Nacht ein und derselbe Albtraum heimgesucht: Ein Mob stürmte die Sagrada Familia , verwüstete voll Hass die Krypta, entweihte Altar und Tabernakel und sprengte den Turm von San Bernabé in die Luft, der als einziger vollendet war. Das Entsetzen schnürte ihm die Brust zu, er bekam keine Luft und fuhr in kalten Schweiß gebadet von seiner hölzernen Pritsche hoch. Er wischte sich mit dem ausgefransten Ärmel seines Nachthemds den Schweiß von der Stirn, bis sich sein Puls nach einer Weile beruhigte und er wieder frei atmen konnte. Ein Blick auf den laut tickenden Wecker zeigte ihm, dass es sechs Uhr war. Er ballte die Rechte um den kleinen Schlüssel, den er um den Hals trug, seit ihm sein Vater das Geheimnis der Familie Gaudí anvertraut hatte.
Rasch kleidete er sich an, als fürchtete er, zu einer Verabredung zu spät zu kommen, und trat an den alten Schreibtisch, der von Entwurfszeichnungen überquoll und auf dem zahlreiche Modelle standen. Er öffnete die Schublade, schloss das kleine Kästchen auf und nahm das Kreuz heraus. Ein letztes Mal betrachtete er die Zeichen darauf, die er auf ein Blatt Papier übertragen und so lange mit unendlicher Geduld zu entziffern versucht hatte, bis er hinter ihren Sinn gekommen war. Der Herr hatte ihm die Gnade erwiesen und ihm das große Geheimnis der Schöpfung, des Grals und der Alchemie enthüllt. Dieses Geheimnis hatte er in den Steinen der Sagrada Familia nachgebildet, damit es per saecula saeculorum bewahrt wurde, bis ans Ende der Zeiten. Alles in diesem Kreuz, das seine Vorfahren über Generationen hinweg gehütet hatten, vereinte hermetische Wissen lebte in den Steinen seiner Kirche weiter.
Jetzt blieb ihm nur noch eines zu tun. Er musste das kleine Kreuz verbergen, bevor er starb, und eine unheilvolle Vorahnung riet ihm, damit nicht länger zu warten. Zwar hatte ihm Gott eigene Nachkommen versagt, die Kinder, die er sich so sehnlich gewünscht hatte, doch hatte er ihm zugleich die Geheimnisse des Lebens enthüllt. Der Kreis seines mühevollen Daseins hatte sich geschlossen. Die Krönung seines Werkes, die Versöhnungskirche Sagrada Familia , sollte seine Gedanken in die Zukunft tragen, sein unsterblicher Nachkomme sein.
Er verließ den Raum und machte sich auf den Weg zum Turm San Bernabé. Es war kein Zufall, dass er sich für ihn als den Ort entschieden hatte, an dem er das Geheimnis der Familie Gaudí verbergen wollte. Er hatte die Sagrada Familia als gigantisches steinernes Buch
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