Sagrada: Mystery-Thriller (German Edition)
lauschen. Sirenen kündigten im Stadtteil Sant Martí de Provençals das Ende eines langen und harten Arbeitstages an. Ihnen folgte die der nahe gelegenen Brauerei Damm, aus der bald darauf deren rund tausend Arbeiter auf die Straßen strömten.
Abend für Abend ging Gaudí nach der Arbeit zu Fuß die drei Kilometer von der Sagrada Familia zur Kirche San Felipe Neri , wo er mit seinem geistlichen Beistand, dem Priester Agustín Mas, zu sprechen pflegte. Vor dem Kiosk an der Plaza de Urquinaona blieb er kurz stehen und kaufte La Veu de Catalunya . Er legte die Zeitung zusammen, klemmte sie sich unter den Arm und setzte seinen Weg fort. Es war schon dunkel, als er, wie immer zu Fuß, zum Abendessen in die Sagrada Familia zurückkehrte, das gewöhnlich aus zwei in Brotbröseln gewendeten Armen Rittern und einer Handvoll Rosinen bestand. Diesen immer gleichen Tagesablauf änderte er lediglich dann, wenn er den Priester José Pedragosa Monclús aufsuchte. Dieser leitete das sogenannte »Familienhaus«, in dem Strafgefangene nach ihrer Entlassung aus dem Mustergefängnis von Barcelona Aufnahme fanden. Oft verbrachte Gaudí dort die Nacht, von Missetätern umgeben, wie einst Jesus am Kreuz.
An jenem Abend ging er die Calle Bailén hinab zur Kreuzung mit der breiten Gran Via de les Corts Catalanes, in deren Mitte zwei Straßenbahngleise verliefen. Tief in Gedanken über die günstigste Form seiner Glocken versunken, hörte er beim Überqueren der Straße die schrille Klingel der Linie 30 nicht, woraufhin der Fahrer bremste. Als die Räder auf den Schienen kreischten, wich Gaudí instinktiv zurück, und so erfasste ihn die Bahn, die auf dem Nebengleis in der Gegenrichtung herangekommen war. Durch den heftigen Aufprall wurde er gegen einen Mast der Fahrleitung geschleudert. Der Fahrer hielt an, stieg aus und beugte sich über den wie leblos am Boden Liegenden. Da er ihn wegen seines schäbigen Aufzugs für einen betrunkenen Vagabunden hielt, schob er ihn achtlos beiseite und setzte die Fahrt fort. Gaudí blutete aus einem Ohr. Passanten eilten ihm zu Hilfe und baten mehrere Taxifahrer, ihn ins Krankenhaus zu bringen. Die ersten drei weigerten sich, weil sie fürchteten, die Polster ihres Wagens könnten Blutflecken bekommen. Diese Sorge war ihnen wichtiger als die um den hilfsbedürftigen Mitmenschen. Sie wurden später wegen unterlassener Hilfeleistung verurteilt.
Schließlich brachte ein Taxi dank dem Eingreifen eines Polizeibeamten den Schwerverletzten in die Ambulanz an der Ronda de Sant Pere. Dort diagnostizierte man mehrere Rippenbrüche, eine Gehirnerschütterung und eine Blutung im Innenohr. Angesichts dessen hätte man ihn eigentlich ins Zentralkrankenhaus der Stadt bringen müssen, doch zogen es die Mitarbeiter der Ambulanz wegen des kurz bevorstehenden Feierabends vor, ihn in die deutlich näher gelegene Klinik Santa Cruz in der Calle del Carme zu bringen. Da ihn auch dort bei der Einlieferung niemand erkannte, wies man ihm wegen seiner scheinbaren Mittellosigkeit ein Bett im großen Krankensaal zu, wo er die ganze Nacht mit dem Tode rang.
Als er um acht Uhr abends immer noch nicht zur Sagrada Familia zurückgekehrt war, begann sich der Priester Gil Parés Sorgen zu machen. Er rief den Architekten Sugrañes an, und gemeinsam begannen sie in Krankenhäusern und auf Polizeiwachen herumzufragen. In der Ambulanz an der Ronda de Sant Pere erfuhr Parés von einem der Ärzte, ein Vagabund, auf den die Personenbeschreibung Gaudís passte, habe einen Verkehrsunfall erlitten. Man habe in seinen Taschen keinerlei Papiere gefunden, lediglich eine Bibel und eine Handvoll Rosinen und Nüsse. Der Mann könne unmöglich der berühmte Architekt sein, er habe ja nicht einmal Hosenträger gehabt, sondern seine Hose mit Sicherheitsnadeln am Hemd befestigt …
Dessen ungeachtet beschloss Parés, sich den vermeintlichen Vagabunden näher anzusehen, und so fand er den Sterbenden im großen Krankensaal. Am nächsten Morgen erlangte Gaudí noch einmal das Bewusstsein und verlangte nach den heiligen Sakramenten. Inzwischen hatte sich die Nachricht von seinem Unfall wie ein Lauffeuer in der Stadt verbreitet. Sogleich verfügten die Behörden seine Verlegung in ein Einzelzimmer auf der Privatstation. Gaudí, dem wegen seiner gebrochenen Rippen das Atmen schwerfiel, sagte nichts. Von Zeit zu Zeit flüsterte er bloß »Jesus, mein Gott« und bekreuzigte sich. Am Mittwoch hatten die Zeitungen in ihrer Frühausgabe den tragischen Unfall
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