Sag's Nicht Weiter, Liebling
langsam. An der Ecke bleibe ich stehen, putze mir die Nase und atme ein paar Mal tief ein. Der Schmerz in der Brust hat etwas nachgelassen, an seiner Stelle spüre ich jetzt zitternde, flatternde Nervosität.
Wie kann ich nach dem, was Jack im Fernsehen gesagt hat, Lissy unter die Augen treten? Wie?
Ich kenne Lissy schon lange. Und ich habe mich schon oft genug vor ihr geschämt. Aber das hier schlägt alles.
Das ist schlimmer, als im Badezimmer ihrer Eltern zu kotzen. Es ist schlimmer, als von ihr erwischt zu werden, wie ich mein Spiegelbild küsse und mit sexy Stimme »ooh, Baby« sage. Es ist sogar schlimmer, als beim Schreiben einer Valentinstagskarte an unseren Mathelehrer Mr. Blake überrascht zu werden.
Wider besseres Wissen hoffe ich, dass sie sich plötzlich entschieden hat, auszugehen. Aber als ich die Wohnungstür öffne, ist sie da, sie kommt aus der Küche in den Flur. Und als sie mich ansieht, spüre ich es sofort. Sie ist völlig durcheinander.
Das war es dann wohl. Jack hat mich nicht nur betrogen. Er hat außerdem meine beste Freundschaft zerstört. Zwischen Lissy und mir wird es nie wieder so sein, wie es war. Wie in Harry und Sally . Sex ist der Beziehung im Weg, und wir können
jetzt nicht mehr befreundet sein, weil wir miteinander ins Bett wollen.
Nein. Streichen. Wir wollen nicht miteinander ins Bett. Wir wollen nur … Nein, es geht darum, wir wollen nicht …
Egal. Wie auch immer. Es ist nicht gut.
»Oh!«, sagt sie und starrt zu Boden. »Ui! Äh … hi, Emma!«
»Hi!«, antworte ich mit erstickter Stimme. »Ich dachte, ich komme besser nach Hause. Im Büro war es einfach zu … zu schrecklich …«
Ich verstumme, und ein paar Sekunden lang herrscht unerträgliches, quälendes Schweigen.
»Also … dann hast du es wohl gesehen«, sage ich schließlich.
»Ja, ich habe es gesehen«, sagt Lissy und starrt immer noch zu Boden. »Und ich …« Sie räuspert sich. »Ich wollte nur sagen, dass … dass ich ausziehe, wenn du willst.«
Ich spüre einen Kloß im Hals. Ich wusste es. Nach einundzwanzig Jahren ist unsere Freundschaft vorüber. Ein winziges Geheimnis kommt ans Licht - und das ist das Ende von allem.
»Ist schon okay«, sage ich und versuche, nicht in Tränen auszubrechen. »Ich ziehe aus.«
»Nein!«, sagt Lissy betreten. » Ich ziehe aus. Du kannst ja schließlich nichts dafür, Emma. Ich war es doch, die … dich gereizt hat.«
»Was?« Ich starre sie an. »Lissy, du hast mich doch nicht gereizt!«
»Natürlich habe ich das.« Sie wirkt ganz zerknirscht. »Ich fühle mich schrecklich. Ich hatte einfach keine Ahnung, dass du … solche Gefühle hast.«
»Habe ich doch gar nicht!«
»Mir wird das jetzt erst alles klar! Ich bin hier immer halb nackt rumgelaufen, kein Wunder, dass du frustriert warst!«
»Ich war nicht frustriert«, sage ich schnell. »Lissy, ich bin nicht lesbisch.«
»Dann eben bi. Oder multi-orientiert. Wie auch immer man es nennt.«
»Ich bin auch nicht bi! Oder multi-irgendwas.«
»Emma, bitte!« Lissy ergreift meine Hand. »Du solltest dich nicht für deine Sexualität schämen. Und ich verspreche dir, ich unterstütze dich, egal, wie du dich entscheidest …«
»Lissy, ich bin nicht bisexuell!«, heule ich los. »Ich brauche keine Unterstützung! Es war nur ein einziger Traum, klar? Es war keine Fantasie, sondern nur ein seltsamer Traum, den ich gar nicht haben wollte, und das heißt überhaupt nicht, dass ich lesbisch bin, und es heißt nicht, dass ich auf dich stehe, und es hat überhaupt gar nichts zu bedeuten.«
»Oh.« Wir schweigen. Lissy wirkt betroffen. »Ach so. Ich dachte, es wäre eine … eine … du weißt schon.« Sie räuspert sich. »Dass du …«
»Nein! Ich habe nur geträumt. Nur einen einzigen, dämlichen Traum.«
»Oh. Aha.«
Es entsteht eine lange Pause, in der Lissy intensiv ihre Fingernägel betrachtet und ich die Schnalle meiner Uhr studiere.
»Und haben wir da so richtig …«, fragt Lissy schließlich.
Oh Gott.
»Irgendwie schon«, gebe ich zu.
»Und … war ich gut?«
»Was?« Ich starre sie an.
»In dem Traum.« Sie sieht mich mit knallroten Wangen direkt an. »War ich gut?«
»Lissy …«, sage ich und ziehe ein gequältes Gesicht.
»Ich war miserabel, oder? Ich war miserabel! Ich wusste es.«
»Nein, natürlich warst du nicht miserabel!«, rufe ich. »Du warst … du warst wirklich …«
Ich fasse es nicht, dass ich tatsächlich über die sexuellen Fähigkeiten meiner besten Freundin als geträumte
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