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Saiäns-Fiktschen

Saiäns-Fiktschen

Titel: Saiäns-Fiktschen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Fühmann
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werden konnten, hörte man aus den zumeist offenstehenden Fenstern wenn zwar nicht alle, so doch so viele Programme, wie Mietsparteien im Hause wohnten, und mitunter auch noch einige mehr.
    Nun hätte — was er ja oft genug tat — Jirro natürlich auch in seiner Wohnung oder in irgendeinem Club fernsehen können, und es hätte ihm auch, ebenso natürlich, dort die Wahl jeden Programms freigestanden, aber darauf kam es ihm nicht an. Sein Hörtheater war mehr als Fernsehn, wiewohl es, nur aufs Hören beschränkt, des Bildes ermangelnd weniger schien. Gerade das aber reizte Jirro: Musik und Wort im Geist zu ergänzen; und dann traf ihn wie ein Blitz die Erkenntnis, daß hier, in den firmamentlosen Schluchten, sich ihm die Seele der Stadt eröffne, ja die Seele einer Hälfte der Welt.
    Seitdem nannte er jene Hinterfronten nur seine „Straßen der Offenbarung“.
    Da Libroterrs Fernsehn sich inhaltlich von dem Uniterrs doch recht unterschied, gab es anfangs für Jirro Verkennungen. Er entsinnt sich noch genau des Schocks, als er, vor einem Fangwerber fliehend, hinter der Fassade des Großen Rings aus einem Mietshaus zu milder Musik den Schrei vernahm: „NICHT IN DIE NIEREN STECHEN“; und ein Klirren von Stahl, und Höllengelächter. Es spricht für Jirro, daß er seine Furcht überwand und, zu helfen bereit, in das Haus hineinstürzte; daß, wie sich dann herausstellen sollte, dieser Schrei einer populärwissenschaftlichen Sendung für Kinder — einem Grundkursus Anatomie in Gestalt einer beliebten Kriminalserie — entstammte, ändert nichts an Jirros Mut. Der Schrei, die Musik, das Satanslachen, und die Auflösung ins Triviale: auch eine Straße der Offenbarung; und von da an blieb Jirro fasziniert. Zuerst von der Vielfalt überhaupt, dem Schwelgen im schieren Überfluß (einmal hörte er gleichzeitig dreiundfünfzig Programme); dann von der Vielfalt der Variationen jener beiden Grundstrukturen, die er in der Fülle ständigen Wechsels immer wiederkehrend zu erkennen glaubte (und bald, voll Stolz, auf die Formel brachte: Lust der Gewalt — Gewalt der Lust; oder simpler: Schläger und Schlager); und schließlich, und dies anhaltend, von den verblüffenden Kombinationsgeflechten, die der Zufall aus den — an sich rasch uninteressanten — Variantendetails von Fenster zu Fenster und von Etage zu Etage wob. — Jirro war Wissenschaftler genug, diese Kombinationen festzuhalten, um sie einmal systematisch zu analysieren (gäbe es auch im geistigmoralischen Raum so etwas wie Mesonen und Neutrinos?), und wiewohl er seine Tagebücher und Kassetten vor der Rückkehr nach Uniterr zerstrahlte, wirkte das Gehörte so nachhaltig weiter und war sein analytischer Eifer so fordernd, daß er, noch nach Jahren, in der Heimat diese Kombinationen rekonstruieren konnte.
    Die — wiewohl sie vielleicht die subtilste und eigentlich gar nicht so auffällig gewesen — von Jirro zuerst wiederhergestellte Hörszene hatte als die eines Zusammentreffens von Beifallsklatschen aus einer höheren und hastigem Laufen aus einer niederen Fensterebene begonnen und sich — da das Laufen plötzlich abbrach, indes der Beifall weiterschallte — als Applaus zu einer an sich unwahrnehmbaren, doch für den Wisser des Vorgangs zermürbenden Stille fortgesetzt: Es war ein Laufen der Angst gewesen, ein Hasten zweier nackter, flüchtender Füße durch einen niedrigen, hallenden Korridor, und sein Abbruch war nicht das Gewinnen der Freiheit, da hätte man ein Verhalten gehört, und es war auch nicht ein Szenenwechsel auf dem Jirro ja nicht sichtbaren Bildschirm, denn ein Grundton des Schauderns und des Todes, der dem Fliehen angehaftet, dauerte auch im Unhörbaren fort und schuf die Ahnung einer Sperre, die den Flüchtling aufgehalten; und im heftiger werdenden Beifall der Zuschauermasse auf den Rängen spürte man, überspült von jener Musik, die in Libro- wie Uniterr stetig daherrinnt und die man nur wahrnähme, wenn sie verstummte, unabwendbar den Verfolger nahen. Im Beifall nun Bravorufe, Getrampel, gellende Pfiffe des Entzückens; und da Jirro, stehengeblieben, die Entwicklung der Stille zu verfolgen, schon überlegte, ob er fragen dürfe, wohin jene Füße geflohen und ob sie wohl doch gerettet wären (denn ihr Laufen hatte, ihm noch nicht bewußt, das Erinnern an einen Alptraum geweckt):
    während also Jirro noch überlegt, ob er an die Wohnungstür klopfen könnte, heult, wieder ein Stockwerk höher, ein Sturm auf, Klatschen von Wolken, Peitschen

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