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Saiäns-Fiktschen

Saiäns-Fiktschen

Titel: Saiäns-Fiktschen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Fühmann
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flüstern, eine Huldigung an zwei sich verfärbende Lippen, da —
    jähes, gellendes Fahrradklingeln; Jirro, das nackte Gesicht vor den Sinnen, schrak ertappt und mit dem durchdringenden Empfinden, daß von irgendeinem der Fenster aus ein Beauftragter von Uniterrs Gefühlspolizei sein Verhalten überprüfe, zusammen; er entlief und nahm während des Weglaufens wahr, daß (man kann mit einer wunsch-, oder besser: triebgesteuerten Auswahlautomatik ja blitzschnell durch alle Programme streifen) die verzückte Schilderung eines aufklaffenden Mundes nunmehr aus jeder Wohnung schallte. — Jirro, da er immer ärger gehetzt durch die kunstlichtflimmernde Häuserschlucht rannte, war verstört vor Scham, jener abscheulichen Szene — denn so, und nur so, kam sie ihm jetzt vor — derart lange sich preisgegeben zu haben; er nahm es, noch während des Weglaufens, als Ausdruck seines wissenschaftlichen Systematisationsinteresses.
    An diesem Tag gelang ihm nichts mehr.
    Als er im Labor, am nächsten Morgen, unter einem ihm unerklärlichen Zwang, seinem libroterranischen Arbeitskollegen das Begebnis zu erzählen versuchte und — was sonst gar nicht seine Art war — sich über derlei Volksunterhaltung entrüstet zeigte, meinte der lachend, was Jirro denn wolle, die Welt sei nun einmal pervers; und im übrigen seien sie Physiker. — Jirro war jenes Wort unbekannt, er ließ es sich erklären und fand es so treffend, daß er die Schlucht hinterm Großen Ring, bis dahin eine der „Straßen der Offenbarung“, in „Straße der Perversionen“ umtaufte. Dieser Plural, nicht unbedacht gesetzt, deutete an, daß der Systematiker Jirro die Frage zu durchdenken gedachte, welche Arten Verkehrungen es gebe, und welche davon die ärgste sei, und welche in der begrifflich ärgsten wiederum deren konkret ärgste; allein er hatte nicht die Muße, in dieser Materie aufzugehn. So nahm er pragmatisch jene Szene so lange als die ärgste an, bis eine ärgere sie übertreffe, wobei er unter „ärger“ stillschweigend einen größeren Grad von etwas verstand, das er nicht recht zu definieren vermochte, das aber mit dem Wort „Befremdung“ annähernd ausgedrückt werden mag.
    Lange Zeit blieb jene ärgste Szene die ärgste; weder die klappernden Gespräche zweier einen gelähmten Alten zu ihresgleichen abnagenden Skelette (wieder ein Beitrag des Wissenschaftsprogramms „Grundkursus Anatomie für Kinder“), im Zusammenklang mit einem Grundkursus Cellospiel und einer Werbesendung des Eiweißkonzerns gegen zu viele Kohlehydrate enthaltende Speisen, noch die detailliert geschilderte Liebesumarmung, mit der eine Gorillafrau einen von ihr entführten Knaben zu beglücken wie zu ermannen versuchte (Serie „Aus uralten Archiven gerettet“), konnten ihr, jener ärgsten, den Rang ablaufen, jedenfalls nicht für Jirros Gefühl. Allmählich erlahmte auch sein Interesse; ein sensationeller Industriebau (die sogenannte Bergfabrik eines gewissen Moritz Cornelius Asher) nahm seine Aufmerksamkeit voll in Anspruch, und dazu noch ein Wechsel des Freizeitverhaltens in eine Richtung, die Jirro enttäuschte: der berühmte Weiche Sommer zog auf, mit sanfter Musik und zärtlichem Plaudern, geflüsterten Schwüren, gehauchten Küssen, das schlug sich in den Unterhaltungen nieder, und so entdeckte man jene Biederkeit neu, die in grauer Vorzeit die Ahnen befriedigt: Schießpulverschüsse, Hufgetrappel, Krachen von Fäusten nur gegen Kinne in redlichen Kämpfen unter Männern, die stets mit einem Sieg der Guten und ihrem fröhlichen Lachen enden, variationslos, eindeutig, in genauer Abfolge, und dies von Fenster zu Fenster durch alle Etagen; Jirro hörte bald nicht mehr hin.
    So trug denn die „Straße der Perversionen“ diesen Namen nur noch als ein Erinnern, das Jirro in wachsender Wehmut pflegte. Seine Zeit in Libroterr ging unaufhaltsam zu Ende; die letzte Dekade, das letzte Heute, und morgen schon in Uniterrs Straßen, frei von Fangwerbern, Gangstern, Prostituierten, und auch eine Straße der Perversionen würde das Vaterland ihm niemals zumuten, das sah es ja als seine Sendung an: ein Menschentum ohne Verkehrung zu hüten. — War Jirro denn auch stolz auf seinen sauberen Staat? Ach, jeder Abschied macht sentimental und verklärt den Ort, von dem man scheidet, und da, in ein „Weißt-du-noch“ verkapselt, Jirro zum endgültig letzten Mal die vertraut gewordene Straße durchschreitet, verschließt er sich im gleichen Maß, in dem er sein Ohr all den Schällen

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