Saiäns-Fiktschen
Uniterr gab es im gesamten Menschheitsgebiet immerhin noch die stattliche Zahl von 82347 vollständig erhaltenen Papierbüchern der Kategorie I, und die der Kategorie II wurde auf 1,2 Millionen geschätzt. — Unter einem Papierbuch verstand man „ein auf Substraten pflanzlicher oder tierischer Abkunft materialisiertes und ohne maschinelle Vermittlung (Lesegerät, Film, Tonerzeuger u.ä., jedoch nicht Brille oder einfache Lupe) konsumierbares Druckerzeugnis jedweder Art“; zu den Papierbüchern der Kategorie II wurden auch Photographien gezählt. — Papierbücher der Kategorie II waren Stücke deutlich minderen historischen oder materiellen Wertes: unausgefüllte Formulare von Massencharakter, ein herausgerissenes Kalenderblatt, ein leerer Buchdeckel, ein Briefkuvert; eine beschriebene Postkarte hingegen konnte, je nach Auslegung, auch zu Kategorie I gehören.
Als eine ihrer ersten Maßnahmen hatte Uniterrs Regierung sämtliche in Privatbesitz befindlichen Papierbücher der Kategorie I zwecks Kontrolle und Registrierung eingezogen; Verhehlung des Besitzes wurde gebührend bestraft, in der Regel mit Leibesverlust; nach erfolgter Registrierung wurde die Mehrheit der Exemplare als Nationalvermögen den Bibliotheken zugewiesen, es wurden aber auch Papierbücher dieser Art den Besitzern zurückgegeben, in insgesamt einunddreißig Fällen. — Papierbücher der Kategorie II waren anmeldepflichtig; insbesondere mußte die Art und Weise des Erwerbs detailliert nachgewiesen werden. Sie waren begehrte Sammelobjekte; so war zum Beispiel Jirros Vater auf nichts so stolz wie auf einen Kassenzettel aus dem Jahr 1998, den Kauf eines Stücks Seifenersatz (für 49,99 Mark) in der SUPERKAUFHALLE 22 einer schon im ersten Atomkrieg verschollenen Stadt namens Berlin bestätigend. Dies in seiner Art einzigartige Stück hing, in einer konservierenden Kryptonglashülle, an der Stirnwand der Familienwohnzelle und gab Jirros Vater vor jedem seiner Gäste Anlaß, in eine tief philosophische Betrachtung über den Menschheitsfortschritt einzutreten: Während in jenen so fernen, finsteren Zeiten die Menschen noch gezwungen waren, Seifenersatz käuflich zu erwerben, teile ihnen in Uniterr die nur um das Wohl des Volkes besorgte Regierung allmonatlich ein Stück Ersatzseife kostenlos zu, worob man ihr immer dankbar sein wolle. — Nicken; Staunen; bewunderndes Raunen. — „Vor — warte mal —“, sagte dann stets der Besucher, „eintausendvierhundertachtundfünfzig Jahren — unglaublich!“
Und alle nickten abermals.
Nun geschah es, daß Pavlo ein Papierbuch der Kategorie I in die Hand bekam, und zwar eines jener einunddreißig in Privatbesitz befindlichen. Die näheren Umstände sind nicht wichtig; es mag genügen, daran zu erinnern, daß Pavlo einmal im Auftrag eines Kameraden Anführers der Hauptstädtischen Kontrolltrupps an Erfindungen arbeitete und sich dabei auch der Gönnerschaft dessen Gefährtin erfreute, die dann aus ihrem Bekanntenkreis Pavlo jenes Papierbuch leihweise vermittelte; wichtig ist jedoch, darauf hinzuweisen, daß Papierbücher prinzipiell etwas Anderes waren als deren — meistens der Zeit zwischen dem ersten und dem zweiten Atomkrieg entstammende — Übertragungen auf Mikrofilme oder Lesekarten [1] , in welcher Weise dann ein beträchtlicher Teil der Weltliteratur vom Gilgamesch-Epos über Dante und Beckett bis Smith, Schmidt und Szmyd textlich erhalten blieb. Zur, wir wiederholen es, Definition eines Papierbuchs gehörte seine Konsumierbarkeit ohne maschinelle Vermittlung, oder um es konkret zu sagen: Was ein Papierbuch war, begriff Pavlo, da er es in seinen Händen hielt.
Daß man es anfassen konnte wie einen Leib! Er strich über den blaugrauen, geschmeidigen Einband; ihn schwindelte. — Das Buch lag, ein Wesen, in seinen Händen; er öffnete es, man konnte es auftun, die Hand spürte Widerstand und Ergebung, die Schrift erschien in gegliederten Blöcken, schon sichtbar, aber noch nicht ersehbar; die Seiten wölbten sich wie Hügel, in ihrer Mitte ein Schattental. — Schatten auch von Pavlos Finger, der über die Zeilen der Zeichen hinglitt, er konnte ihre Konturen spüren, die Buchstaben rochen nach Dunkel und Ferne, man hörte die Blätter beim Hinfließen rauschen, ein Quell unversiegbar sich ergießender Zeit. — Er las noch nicht; er nahm nur hin, und dies tat er mit allen Sinnen. — Weder Mikrofilm noch Leseplättchen waren außerhalb der Maschine Dinge sinnlicher Selbstoffenbarung: der Mikrofilm
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