Sakrament der Lust
ein und ich halte die Luft an. Ich erkenne ihn sofort, obwohl er jetzt sein Priestergewand trägt, statt dem dunkelblauen Hemd wie in der Bibliothek. Er schaut in die Menge und ich ducke mich unwillkürlich. Dann begrüßt er seine Gemeinde. Wieder diese vertraute Stimme zu hören bewirkt, dass sich ein unbeschreibliches Wohlgefühl in mir ausbreitet. Ich lausche nicht auf seine Worte, sondern verliere mich in ihrem Klang. Meine Augen haften auf den vollen Lippen, die ich geküsst habe. Wie gerne würde ich meine Finger einmal in diesen dunklen Haaren vergraben. Der Priester setzt sich nun auf einen Stuhl ganz vorne und lauscht zusammen mit der Gemeinde dem Gospelchor, der nun zu singen beginnt. Das ist doch mal was anderes als nur diese Orgelmusik, denke ich und bekomme sogar Lust mitzusingen. Danach folgt ein Gebet, das ich von einem Zettel ablesen kann, der auf jedem Platz bereit liegt. Hier finde ich auch Liedtexte und das Thema der Predigt: Nächstenliebe. Ich kann kaum der Messe folgen, weil ich in Gedanken auf alle erdenklichen Arten mit Pater Siebert verschmelze. Er trägt wie der Priester in meiner Heimatkirche ein weißes Gewand und einen langen Schal, von dem ich inzwischen gelesen habe, dass man ihn Stola nennt. Es folgen Lieder und Gebete, Fürbitten, eine Lesung aus der Bibel und eine Kollekte für das Waisenhaus.
Als Pater Siebert mit der Predigt über Nächstenliebe beginnt, bin ich noch immer so aufgeregt, dass ich unruhig auf meinen Sitz hin- und herrutsche. Mein Nachbar, ein älterer Herr mit Nickelbrille, wirft mir einen missbilligenden Blick zu. Ich zwinge mich, ruhig sitzen zu bleiben und starre nach vorne. Ich hänge an den Lippen des Priesters, ohne seine Worte zu hören. Ich zwinge mich, meine Emotionen in den Griff zu bekommen und konzentriere mich auf die Predigt.
«...Nächstenliebe ist nicht nur ein schönes Wort, es wird auch in der Bibel viel darüber geschrieben. Wir kennen das Gleichnis vom barmherzigen Samariter, der sogar seinem Feind in der Not hilft...»
Sein Blick schweift über die Gemeindemitglieder, die allesamt an seinen Lippen hängen, schweift langsam über mich hinweg und kehrt ruckartig zu mir zurück. Er starrt mir direkt in die Augen und verstummt mitten im Satz. Ich spüre, wie ich purpurrot anlaufe und bereue sofort, dass ich überhaupt hergekommen bin. Am liebsten würde ich mich augenblicklich in Luft auflösen. Das Schweigen in der Kirche verwandelt sich in verwundertes Flüstern und Gemurmel und einige schauen neugierig in meine Richtung, um zu sehen, was die Aufmerksamkeit ihres Paters gefangen hält. Ich senke beschämt den Kopf und rutsche mit dem Hintern nach vorne, um so weit wie möglich zwischen den anderen Leuten abzutauchen. Am liebsten würde ich hinaus laufen, aber das würde noch mehr unangenehme Aufmerksamkeit erregen. Ich sehe ihn nicht mehr an, als Pater Siebert mit belegter Stimme fortfährt:
«Ja, äh, es gibt für die Nächstenliebe sogar ein eigenes Gebot, das denn heißt: Liebe deinen Nächsten als dich selbst, wie die korrekte Übersetzung lautet. Und äh...Zum Abschluss hören Sie einige Lieder unseres Gospelchors ...»
Er vermeidet es, mich wieder anzusehen, als er das Abschlussgebet spricht und hastig durch eine Tür im Altarraum verschwindet. Dieser Mann bringt mich noch komplett um den Verstand. Ich fühle mich wie ein total durchgeknallter, verliebter Teeanger und schäme mich dafür. Der Chor beginnt mit seinem Lied. Das ist die perfekte Gelegenheit, mich ebenfalls fortzuschleichen, bevor Pater Siebert wieder zurück kommt. Ich bin froh, dass ich am seitlichen Ende der Bank sitze und niemand wegen mir aufstehen muss, als ich mich erhebe und mit raschen Schritten auf eine der kleineren Türen an der Längsseite des Kirchenschiffs zugehe. Ich schlüpfe rasch hindurch und lande in einem langgezogenen Saal mit zwei weiteren Türen. Mist! Ich dachte, hier ginge es auf dem schnellsten Wege hinaus. Ich laufe zur Tür an der Stirnseite und gelange in einen weiteren, wohnlich eingerichteten Raum. Irgendwo muss es hier doch einen Ausgang geben! Als ich die nächste Tür links von mir öffne, stelle ich erleichtert fest, dass sie tatsächlich nach draußen führt. Ich will gerade hindurchgehen, da sehe ich jemanden aus den Augenwinkeln vom anderen Ende des Raumes auf mich zulaufen. Es ist der Priester Julian Siebert und seine braunen Augen funkeln zornig, als er auf mich zukommt. In meinem Bauch drehen Hubschrauber Loopings und ich schlucke
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