Sakrileg – The Da Vinci Code: Inkl. Leseprobe aus „Inferno“
spiritueller Natur. Historisch gesehen ist der Geschlechtsverkehr ein Akt, in dem das Männliche und Weibliche das Göttliche schauen. Die alten Völker glaubten, dass das Männliche in einem geistigen Mangelstatus existiert, bis es in der fleischlichen Vereinigung mit der Frau die Erfahrung des göttlich Weiblichen macht. Die körperliche Vereinigung war das einzige Mittel, durch das der Mann geistig heil werden und gnosis erlangen konnte – Wissen vom Göttlichen. Seit den Zeiten der Göttin Isis betrachtete man die Sexual- und Fruchtbarkeitsriten als die Brücke, über die der Mann von der Erde zum Himmel gelangt. Durch die Vereinigung mit der Frau kann der Mann im Augenblick der Ekstase erleben, wie sein Geist sich völlig entleert und das Göttliche sichtbar wird.«
Sophie sah ihn stirnrunzelnd an. »Orgasmus als Gebet?«
Langdon zuckte die Schultern, doch im Prinzip hatte Sophie Recht. Physiologisch betrachtet, setzte beim männlichen Orgasmus einen Sekundenbruchteil lang jede gedankliche Tätigkeit aus; es entstand eine Art Vakuum, ein Moment der Klarheit, in dem der Geist eine Ahnung von Gott erhaschen konnte. Manche Gurus, die diesen Zustand allein durch Meditation erreichten, beschrieben das Nirwana als nicht enden wollenden spirituellen Orgasmus.
»Es ist wichtig, Sophie«, fuhr Langdon fort, »sich klar zu machen, dass die Vorstellungen vom Geschlechtlichen bei den alten Völkern völlig anderer Art waren als heutzutage bei uns. Die Sexualität brachte neues Leben hervor. Es war das Wunder an sich, und Wunder konnte nur eine Göttin vollbringen. Die Fähigkeit der Frau, neues Leben hervorzubringen, machte sie heilig. Der Geschlechtsverkehr war gleichsam die Vereinigung der beiden getrennten Hälften des Menschen – weiblich und männlich –, durch die der Mann seine spirituelle Ganzheit und seine Einheit mit dem Göttlichen wieder gefunden hat. Bei dem Ritual, das Sie beobachtet haben, ging es nicht um Sex, sondern um Spiritualität. Das Ritual des hieros Gamos ist keine Perversion, sondern eine zutiefst sakrosankte Zeremonie.«
Langdons Worte schienen bei Sophie einen empfindlichen Nerv zu treffen. Sie hatte die ganze Nacht sehr beherrscht gewirkt; jetzt aber konnte Langdon ihre Fassade bröckeln sehen. Tränen schimmerten in ihren Augen, und sie tupfte sie mit dem Ärmel ab.
Langdon wartete, bis sie die Fassung wiedergewonnen hatte. Die Vorstellung vom Geschlechtsverkehr als Weg zur Gotteserkenntnis war zugegebenermaßen auf den ersten Blick schockierend. Langdons jüdische Studenten beispielsweise waren jedes Mal entgeistert, wenn er ihnen darlegte, dass das frühe Judentum sexuelle Fruchtbarkeitsriten praktiziert hatte – im Tempel. Die alten Juden glaubten, dass im Allerheiligsten von Salomons Tempel nicht nur Gott, sondern auch sein machtvolles weibliches Gegenstück Schekinah gegenwärtig sei. Auf der Suche nach spiritueller Ganzheit kamen die Männer zu den Priesterinnen des Tempels – den Hierodulen oder Tempeldienerinnen –, die mit ihnen den Liebesakt vollzogen und den Männern durch die körperliche Vereinigung zur Erfahrung des Göttlichen verhalfen. Das aus den vier Buchstaben YHWH bestehende jüdische Wortkürzel – der heilige Name Gottes – setzte sich zusammen aus den Buchstaben des Wortes Jehova , einer androgynen Vereinigung des männlichen Jah und des vorhebräischen Wortes für Eva, Havah .
»Für die Kirche war der unmittelbare Zugang zu Gott durch das Geschlechtliche natürlich eine ernste Bedrohung ihres Machtanspruchs«, fuhr Langdon fort. »Es setzte der katholischen Kirche sozusagen den Stuhl vor die Tür und unterminierte ihren Anspruch, die einzige Mittlerin zwischen Gott und den Menschen zu sein. Aus nahe liegenden Gründen hat die Kirche das Geschlechtliche nachhaltig dämonisiert und den Geschlechtsakt als ekelhaft und sündig diffamiert. Andere Weltreligionen sind ganz ähnlich vorgegangen.«
In einer Vorlesung hatte Langdon auf den gleichen Sachverhalt hingewiesen. »Wir brauchen uns über unsere widersprüchliche Einstellung zum Sexuellen nicht zu wundern«, hatte er zu seinen Studenten gesagt. »Unser altes kulturelles Erbe und unsere Physiologie sagen uns, dass Sex das Natürlichste von der Welt ist – ein altehrwürdiger Weg zur geistigen Erfüllung –, doch die heutigen Religionen behandeln das Geschlechtliche mit Geringschätzung und verlangen von uns, unsere sexuellen Bedürfnisse als Machenschaften des Bösen zu fürchten.«
Langdon hatte
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