Salamitaktik
Wartezimmer.
Schlageter drückte die Tür auf.
»Herr Brockmann. Was ist hier los?«
»Zweites Behandlungszimmer. Rechter Gang hinten. Da finden Sie Ihre Mörderin«, sagte Brockmann, während er sich setzte und auf den toten Bildschirm starrte.
»Sie kommen mit.«
»Nein. Ich bleibe hier. Ich werde Ihnen schon nicht weglaufen.«
Das sollte er mal versuchen. Schlageter ging nach hinten und zückte dabei sein Handy.
»Helbach?«
»Ja? Sind Sie endlich drin?«
»Sie können die Stellung verlassen. Kommen Sie schnellstmöglich rein und organisieren Sie Verstärkung.« Bevor er auflegte, sagte er noch: »Und einen Krankenwagen.«
Im Zimmer vor ihm lag die Sprechstundenhilfe. Wie hatte Brockmann sie genannt? Seine hôtesse dâaccueil . Die Empfangsdame. Sie lag auf einer mit hellem beigefarbenem Leder bezogenen Liege, zuckte leicht mit Armen und Beinen und rang nach Luft. Auf dem Boden vor ihr lag eine winzige Spritze.
12
Lutz wohnte am Rand von Brombach in einem heruntergekommenen Mehrfamilienhaus. Auf dem Beton vor der Haustür spielten zwei einfach gekleidete Kinder mit einem Plastikball FuÃball. Schlaicher klingelte und kickte den Kids den Ball zurück, der zu ihm gerollt war. Er klingelte erneut. Offenbar war Lutz nicht da.
»Hey, Chef!«, hörte er ihn rufen und drehte sich um. Lutz schleppte zwei prall gefüllte alte Jutetaschen pro Hand und war vollkommen verschwitzt, schien sich aber zu freuen, dass Schlaicher ihn besuchte. Klar, er wusste ja auch noch nicht, dass der Chef kam, um ihn zum Arbeiten abzuholen.
»Komm, ich nehm dir was ab«, sagte Schlaicher und übernahm zwei der ziemlich schweren Taschen.
Lutz atmete erleichtert aus. »Danke. Sauschwer, echt heavy, nahezu nicht mehr tragbar.« Zum Glück ging ihm die Puste für weitere Synonyme aus.
»Du hast ganz schön viel eingekauft«, bemerkte Schlaicher.
»Nur ein bisschen was davon ist für mich«, antwortete Lutz, grinste den spielenden Kids zu, stellte seine Taschen vorsichtig ab und schloss die Tür auf. »Das meiste ist für Oma Mine.«
»Deine Oma wohnt auch hier?«
»Nein, nein, meine Omas sind tot. Die Sachen sind für eine Nachbarin. Alle hier im Haus nennen sie Oma Mine, eigentlich Wilhelmine. Sie hat niemanden mehr. Ich helf ihr immer ein bisschen. Blöderweise wohnt sie im vierten Stock.«
Das Treppenhaus wirkte sauber, auch wenn man auf den ersten Blick ein paar Schäden erkennen konnte, die ein guter Hausmeister längst repariert hätte. Als sie im vierten Stock ankamen, schwitzte Schlaicher auch.
Lutz klingelte Sturm. Trotzdem kamen beide wieder zu Atem, bevor die Tür endlich geöffnet wurde.
»So, Oma Mine. Deine Einkäufe sind da«, brüllte Lutz.
»Wer isch daas?«, fragte die alte Frau.
»Mein Chef.«
»Ahhh. Chömmed iine.«
Sie trat zur Seite. Lutz ging durch einen mit teils schäbigen, teils antik und wertvoll wirkenden Schränkchen vollgestopften Flur voraus in eine Küche, die wie das Haus aus den Siebzigern stammen musste. Die feinen weià und hellgrau karierten Oberflächen der Einbauschränke waren einmal glänzend gewesen, über die Jahrzehnte aber mattgeputzt worden.
»Heute musst du selbst auspacken, Oma Mine«, brüllte Lutz der Dame zu, die in einer blauen Kittelschürze und rosafarbenen Puschelpantoffeln direkt neben ihm stand. Sie war bestimmt achtzig Jahre alt.
»âs Wasser im Bad laufd schlächd ab«, bemerkte die Frau.
»Mache ich morgen. Ich muss mich jetzt um meinen Chef kümmern. Hier ist dein Restgeld.« Er legte ihr einen Fünfeuroschein, ein Fünfzigcentstück und zwei Zweicentstücke auf den Tisch.
»Se doo«, sagte sie und reichte ihm den Geldschein, aber Lutz winkte ab.
»Ich mach dir morgen den Siphon sauber.«
»Was?«
»Ich mach dir morgen den Siphon sauber, Oma Mine«, schrie er.
»Du bisch e Schadz.«
Sie verlieÃen die Wohnung wieder.
»Du hilfst ihr öfter?«
»Ich hatte ja sonst nicht viel zu tun in letzter Zeit.«
»Das finde ich schön. Aber sonst nimmst du doch Geld von ihr?«
»Was? Nee. Oma Mine hat doch selbst kaum genug zum Leben.« Lutz wirkte echt empört.
Schlaicher war beeindruckt. Ein Gefühl, das sich nicht wiederholte, als er in Lutzâ Wohnung im Souterrain eintrat. Anders als bei Oma Mine, die wohl in einer
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