Salto mortale
ist
Kunst, und Mensch ist Mensch! Lehrt mich
diese Dinge kennen! Seht meine drei Buben
an! Zu Raupen sind sie geboren, zu Kriechern,
aber ich habe Flugkäfer und Sommervögel aus
ihnen gemacht. Und wie? Indem ich ihr Fleisch
mit dem Ehrgeiz peitschte.“
Valentin Häberle war mit den Meinungen
seines seligen Vaters meistens nicht einverstan-
den, in diesem Punkte jedoch pflichtete er ihm
bei: träges Fleisch muß gezwickt und gezwackt
werden, beim einen mit dem, beim andern mit
jenem, bei Heinz Zöbeli mit dem Ehrgeiz. Und
er peitschte ihn damit, bis es zuviel war. Wollte
der gute Junge erlahmen und den Wettkampf
mit dem jüngern Bruder aufgeben, so schoß
der Meister ein wohlgezieltes spitzes Wort
nach ihm ab, doch so, daß es weniger verletzte
als ermunterte und das Selbstvertrauen hob.
Machte Heinz bei seinen Übungen ein Ge-
sicht, auf dem die Anstrengung zu lesen war,
so brauchte der schlaue Fuchs nur zu sagen:
„Aber, Heinz, du schaust ja drein wie Winter-
wetter! Guck einmal, wie Franzle bei dem Ding
lächelt, und doch ist er nicht halb so stark wie
du!“ und der gute Junge lächelte auch.
Und wenn ihm etwa vor Ermüdung die
Glieder leicht bebten und der Meister ihm zu-
rief: „Denk’, es sei ein ganzer Saal voll Leute da
und die sehen dich zittern wie eine Maus vor
der Katze!“, strafften sich gleich die Muskeln
wieder.
In einem passenden Augenblick fragte Heinz
dann: „Ist es wahr, daß ich einmal vielen, vie-
len Leuten etwas vormachen soll?“
„Vielleicht, wenn du recht viel gelernt hast.
Und dann finden wir zusammen auch den
Baum mit dem goldenen Laub, und du wirst
den hohen Sprung tun! Aber schwatze der Mut-
ter nichts davon, beileibe nicht! Verstehst du?“
Heinz nickte, und von da an sah er, wenn er
seine Kunststücke übte, immer die Stube mit
Leuten gefüllt, die lauerten, ob er zittere oder
festhalte.
Indessen kam doch nach etwa zwei Jahren
der Tag, da er sich nicht mehr darüber täuschen
konnte, daß sein Bruder ihm voraus war. Es
war eine bittere Erkenntnis, und zum ersten-
mal empfand er Neid gegen Franz, nur ein paar
kurze, kneifende Augenblicke lang. Denn wie
hätte er auf den lieben Kleinen lange böse sein
können?
Die Tränen schlichen ihm, wie sehr er sich
sträubte, aus den Augen, und als Meister Va-
lentin ihn erstaunt ansah, schluchzte er: „Das
kommt davon, daß ich nun schon lange zur
Schule muß, einen Tag wie den andern.“
Valentin begriff und beschwichtigte ihn: „Ja,
freilich, ist die Schule daran schuld. Der Kleine
hat’s gut, der braucht an nichts als an seine
Faxen zu denken, aber du mit dem lumpigen
Schulkram!“
Das Wort tat dem Knaben wohl, der Fuchs
aber freute sich, daß er ihn so fest in den Kral-
len hielt.
Wie manche Träne zerdrückte Heinz, wenn
er sich zur Schule rüstete. Wie haßte er das
große langweilige Haus mit den frostigen Rei-
hen tintenklecksiger Bänke und den schwarzen
Wandtafeln, an denen er sich erbauen sollte. Er
war nur selten mit dem Geist in der Schule, er
träumte von Herrn Häberles Stübchen, sah
sich auf den Händen, auf dem Kopfe, in allen
möglichen Stellungen, mit dem Kleinen um
das Lob des Lehrmeisters wetteifernd. Kam er
nach Hause, so verschlang er rasch das Vesper-
brot, das man ihm zurechtgeschnitten, und
mühte sich dann ab, bis er mit seinen Kräften
am Rande war.
Meister Häberle schürte den flackernden Ei-
fer und ließ den Knaben nie zur Ruhe kommen.
Freilich mußte er auf ein Mittel sinnen, die Ent-
mutigung von ihm fernzuhalten. Und er fand
es: die Aufgaben der beiden Brüder mußten ge-
trennt werden. Heinz war kräftig gebaut, hatte
einen starken Nacken und sichere Gelenke, er
sollte das Gerät abgeben, an welchem die flinke
Eichkatze Franz ihre halsbrecherischen Stücke
machte. Denn waghalsig war der Kleine. Schon
machte er von einem Stuhl herab seinen Salto
mortale, und es war reizend und beängstigend
zugleich, ihm zuzusehen. Lächelnd stand er
da, beugte den Rumpf langsam rückwärts, bis
der Kopf sich tief in den Nacken senkte und er
über den Rücken hinunter den Boden erblickte.
Dann: hupp! überschlug er die Beine und stand
auf dem Boden, lächelnd wie er auf dem Stuhle
gestanden, und Meister Häberle schlug in die
Hände und rief: „Bravo, bravissimo!“
Heinz suchte ihm das Wagnis nachzuma-
chen, aber es wollte ihm nicht gelingen. Es
fehlte ihm an Biegsamkeit und wohl auch an
Selbstvertrauen; er wäre
Weitere Kostenlose Bücher