SALVA (Sturmflut) (German Edition)
Nähe die meisten Teile
unserer Gespräche aus. Wir verstanden uns auch ohne Worte. Ihsan verstand meine
Signale blind und ich konnte praktische jeden Gedanken von seinem Gesicht
ablesen. Wir ergänzten uns perfekt. Leider war das nicht unbedingt positiv für
ihn. Schon seit seiner Geburt, war Ihsan eher schwächlich. Er hatte keine
Muskeln und auch keine Ausdauer. Seine Körpergröße war durchschnittlich doch
sein dünnes, rotes Haar und die blasse Haut gaben ihm etwas Weibliches. Er
hatte fast immer tiefe Augenringe und wirkte erschöpft. So wie ihm, ging es
vielen. Jeder reagierte anders auf die Medikation und manche beeinflusste sie
körperlich stärker als andere. Er war zwar der ältere von uns, trotzdem hatte
ich immer auf ihn aufgepasst. Er war nachdenklich und sensibel, nicht gerade
der Kämpfertyp. Und ich war nicht gerade der Gefühlsmensch. Nachdem mein Vater
fort war, lernte ich, meine Emotionen in mir einzuschließen, nur Ihsan fand die
richtigen Worte, um mir ab und zu etwas von meinem Schmerz zu nehmen. Menschen
reagierten im Allgemeinen positiv auf ihn, er wirkte so unschuldig und lieb.
Ich hingegen, löste eher gemischte Gefühle bei den Leuten aus. Ich lächelte
selten und war in der Gegenwart von Fremden sehr still. Von meiner Mutter hatte
ich ein gesundes und natürliches Aussehen geerbt, das für diese Gegend eher
selten war. Braunes Haar, blaue Augen und eine sehr helle Haut. Die Medikation
hatte kaum eine Wirkung darauf, was die meisten Frauen dazu brachte mich nicht
besonders zu mögen. Die Männer forderte es nicht selten dazu auf, mir
Aufmerksamkeit zu schenken, die ich nicht wollte.
„Schau da!“ Wieder einmal riss mich
Ihsans Stimme aus den Gedanken. Ich folgte seiner Hand und sah, dass die Straße
vor uns durch Polizisten und eine Menschenmenge versperrt war. Es waren nicht
nur normale Polizisten vor Ort, sondern auch Schutztruppen. Nach dem das
Militär offiziell abgeschafft wurde, führte man die Schutztruppen ein. Ihre
Aufgabe war der Schutz der Regierung und des Friedens in Europa. Sie bekamen
ihre Anordnungen direkt von der Administration der Regierung und hatten somit
auch mehr Macht als die Polizei. Eine ihrer wichtigsten Aufgaben war das
Verfolgen und Verhindern von terroristischen Aktivitäten. Dazu gehörte jede
Form der Störung der bestehenden Ordnung. Jeder, der eine Gefahr für die
systemtreuen Bürger darstellte. Ich war eine Terroristin. Die Schutztruppen
waren die Personifizierung dessen, worauf sich all meine Wut und meine Abscheu
konzentrierten. Sie verteidigten diesen Kontinent und seine Ordnung, die all
seine Bewohner abhängig und klein hielt. Man konnte das verzweifelte Schreien
einer Frau hören.
„Was ist da los?“ Ihsan versuchte zu
erkennen, was hinter der Absperrung und der Menschenansammlung vor sich ging.
Wieder war das Schreien einer Frau zu hören. Bevor ich selbst wusste was ich
tat, lief ich bereits los. Ich kämpfte mich durch die Menschenmenge und sah was
vor sich ging. Eine Frau hielt einen leblosen Kinderkörper in ihren Händen. Ein
Polizist und ein Mitarbeiter der Transportabteilung versuchten das Kind aus
ihrem Griff zu befreien. Die Zeiten, in denen man sentimental um die Toten und
ihre sterblichen Überreste trauerte, war zwar lange Vergangenheit, dennoch viel
es manchen schwer zu akzeptieren, dass der Körper eines geliebten Menschen bald
nichts mehr sein würde als Treibstoff oder Dünger. Der Mitarbeiter der
Transportabteilung zeigte kein Mitleid mit der Frau. Er transportierte jeden
Tag tote Körper, es war nur Arbeit für ihn. Dem Polizeibeamten schien es nur
unangenehm zu sein, dass so etwas simples, wie der routinemäßige Transport
eines Toten so viel Aufmerksamkeit auf sich zog. Die Frau war völlig hysterisch
und schreckte auch nicht davor zurück, die beiden Männer anzugreifen. Ein Mann
von der Schutztruppe kämpfte sich durch die Menge und zog seine Waffe. Niemand
schien Notiz davon zu nehmen. Vor meinem geistigen Auge war bereits geschehen,
was gleich passieren würde. Ich stürmte los und griff nach dem Lauf der Waffe.
Hinter mir konnte ich Ihsan hören, der entsetzt meinen Namen schrie. Für einen
kurzen Moment herrschte eine Totenstille. Ich blickte dem Mann von den
Schutztruppen in die Augen und er erwiderte den Blick. Sein Gesichtsausdruck
zeigte Erstaunen und Verärgerung. Ich hatte das Gefühl, mein Herz würde
aufhören zu schlagen. Mein ganzer Körper zitterte. Er hatte jetzt jedes
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