SALVA (Sturmflut) (German Edition)
die silbernen Verpackungsreste im
Müll und das bedeutete immer nur eins: Versorgungsnahrung. Nach dem weite Teile
Europas für immer im Ozean verschwanden und das veränderte Klima auch noch
weitere Nutzflächen unbrauchbar machte, wurden neue Ernährungsstrategien eingeführt.
Es gab kaum noch Lebensmittel zu kaufen und die, in den Läden angebotenen
Nahrung, wurde in zwei Bereiche aufgeteilt. Normale Nahrung und
Versorgungsnahrung. Die normale Nahrung wurde durch neue Steuern und die
geringe Verfügbarkeit so teuer, dass sich die normale Bevölkerung nur noch an
wenigen Tagen im Monat oder sogar niemals dieses Vergnügen leisten konnte.
Versorgungsnahrung hingegen, sollte die ausreichende Ernährung der
Zivilbevölkerung mit allen wichtigen Nährstoffen und Vitaminen garantieren.
Dazu bestand sie vor allem aus dem, was in großen Massen leicht zu produzieren
war aber kaum Fläche benötigte und zudem auch billig war. Insekten, Algen,
spezielle Pilze, künstliche Vitamine. Es war nicht gerade geschmacklich
umwerfend, aber es machte satt und man kam damit aus. Man ließ sich immer mal
wieder neue Wege einfallen, es durch neue Formen oder Farben appetitlich
aussehen zu lassen und veränderte den Geschmack regelmäßig, damit man es auch
nach Jahren noch ertragen konnte. Boris arbeitete bei der Stadtplanung. Er
verdiente dort kein Vermögen, aber genug, dass wir wenigstens ein oder auch
zwei Mal in der Woche mit normalen Lebensmitteln kochen konnten. Boris setzte
sich zu uns, wir fingen aber noch nicht an zu essen. Wir warteten auf meinen
Stiefbruder Radu. Er war drei Jahre älter als ich und seinem Vater in keinster Weise
ähnlich. Sehr groß und stabil gebaut mit einem, eher typischen Aussehen für
diese Gegend; hell-braunes Haar, braune Augen und markante Gesichtszüge. Boris
war eher klein für einen Mann, obwohl man sich vorstellen konnte, dass er
damals recht attraktiv war. Leider hatte die Medikation sein gutes Aussehen
längst verblassen lassen und an seinem Körper gezehrt. Radu war noch nicht an
diesem Punkt. Genauso wie ich, zeigte auch er eine relativ starke Resistenz
gegen die Nebenwirkungen der Medikation.
„Hi, alle zusammen.“ Er lächelte kurz
und setzte sich zu uns. Ich erwiderte die Begrüßung nicht. Wir verstanden uns
damals, als unsere Eltern sich gerade kennengelernt hatten, sofort gut. Ich
hatte nie Geschwister und fand das als Kind immer schade. Ich hatte zwar Ihsan
aber wir lebten nicht zusammen und wir konnten uns auch nie streiten wie
richtige Geschwister. Mit Radu war es anders. Er neckte und ärgerte mich. Wir
stritten uns wegen Kleinigkeiten und vertrugen uns wieder. Er ging in mein
Zimmer ohne mich zu fragen und ich klaute ihm seine Hemden aus dem Schrank.
Boris und meine Mutter arbeiteten viel und ich sah sie kaum, deshalb gab mir
Radu die Normalität einer kompletten Familie zurück. Ich konnte auch mit ihm
reden, nicht so wie mit Ihsan, aber ich hatte trotzdem das Gefühl, in seiner
Nähe ich selbst sein zu können. Wir lachten zusammen und die gewisse Scheu, die
ich sonst anderen Menschen gegenüber hatte, verschwand ganz von selbst.
Trotzdem hatte ich immer das Gefühl, dass zwischen uns eine unsichtbare Trennlinie
existierte. Manchmal konnte ich die unausgesprochenen Gedanken in seinem
Gesicht sehen, obwohl ich nie gut darin war Gefühle zu deuten. Mit einem Mal
fing er an Abstand zu mir zu halten und ich konnte es nicht verstehen. Es
brachte mich ebenfalls dazu auf Distanz zu gehen und bevor ich wusste wie es
passiert war, sahen wir uns kaum noch, geschweige denn, dass wir mit einander
redeten. Ich dachte eine ganze Weile, ich wäre ihm einfach lästig geworden,
doch dann kam er zum ersten Mal in der Uniform einer Schutztruppe nach Hause
und auf einen Schlag sah ich nicht nur klar, sondern fühlte auch ein Stück
meiner Welt zerbrechen. Er wusste wer mein Vater war. Er wusste auch wie ich
dachte, selbst, wenn ich ihm nicht alles gesagt hatte. Ich glaubte immer, wir
stünden uns nah, doch wir wahren plötzlich meilenweit von einander entfernt.
Alles ergab auf einmal Sinn und von einer Sekunde auf die andere schlugen meine
Gefühle damals um. Ich hasste ihn für diese Entscheidung und vor allem hasste
ich ihn dafür, dass er mich für dumm verkauft hatte. Ich ließ ihn soviel über
mich wissen und ich durfte an seiner Uniform selber herausfinden, dass ich ihn
gar nicht kannte. Meine Emotionen überkamen mich damals und ich schrie ihn an,
aber er sagte kein Wort
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