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Salve Papa

Salve Papa

Titel: Salve Papa Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wladimir Kaminer
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konzentriert hätte. Ich weiß, er wollte es so, der schadenfrohe Dichter und Denker. Von der Vorstellung ausgehend, dass seine Reime Jahrhunderte überdauern und die Lehrbücher der Zukunft bis in aller Ewigkeit füllen würden, reimte er endlose Poeme zusammen, nur um der Jugend eins auszuwischen. Der »Zauberlehrling« hat außerdem einen Haken. Kaum hat man die sechste Strophe drauf, ist die erste schon wieder weg. Wie Goethe das so eingerichtet hat, bleibt sein Geheimnis.
    Ach, was für ein wunderbares Gedicht haben sie früher in der Grundschule auswendig gelernt. Es hieß »Von den blauen Bergen kommen wir« und wurde beinahe von jedem Kind anders interpretiert, es konnte noch so faul sein. Einige reimten darauf »Unsre Lehrer sind genauso doof wie wir«. Birmidschan, der mollige Drittklässler mit Kinderbrille, der gerne auf dem Hof mit Anlauf schubst, entwickelte die eindrucksvollste Version. Leider war er nicht laut genug und verschluckte manche Wörter. Ich habe lange gebraucht, um zu verstehen, was er sang. Die anderen Jungs aus der Klasse haben mir seine Version später diskret erläutert. Birmidschan sang:
     
    Von den blauen Bergen kommen wir
    Sexualrevolution 1904!
    Wir springen über Schluchten,
    Um die Weiber zu befruchten,
    Sexualrevolution 1904!
     
    Ich habe es niemandem verraten. Der Vater von Birmidschan, ein kleiner Mann mit großem Schnurrbart, wird oft von der Klassenlehrerin angesprochen, weil andere Eltern sich darüber beschweren, dass Birmidschan ihre Kinder auf dem Hof mit Anlauf schubst. Deswegen nimmt der Vater immer eine spezielle Haltung an, wenn er die Schule betritt. Sein Gesicht läuft etwas rot an, er blickt böse, bückt sich etwas und hält die Hände vor die Brust, wie ein Boxer. Hinter jeder Säule könnte sich die Klassenlehrerin verstecken oder irgendwelche Mitglieder des Elternbeirats. Dabei ist Birmidschan nicht wirklich gewalttätig. Er kann kein Blut sehen. Als sich ein Mädchen beim Spielen auf dem Hof in den Finger schnitt, fiel Birmidschan in Ohnmacht. Ich kann mir nie das Lachen verkneifen, wenn ich Birmidschans Vater grüße. Er denkt wahrscheinlich, ich wäre ein besonders fröhlicher Mensch. Ich aber muss bei seinem Anblick stets an die Sexualrevolution von 1904 und ihre Folgen für die Menschheit denken.

Die Begabung
    Meine Kinder üben sich ständig darin, Ausreden jeder Art für ein Misslingen zu finden. Wenn meine Tochter etwa ihr Bein im Ballettunterricht nicht hoch genug schwingt oder von der Mathelehrerin schlechte Noten bekommt, sagt sie achselzuckend, sie hätte es auch gar nicht anders erwartet, denn ihr fehle leider die Begabung. Als verantwortungsvolle und selbstbewusste Person würde sie deswegen das Ballett sowie Mathe am liebsten gleich aufgeben, um jemandem mit größerer Begabung, der vielleicht draußen vor der Tür stand und nicht reindurfte, ihren Platz zur Verfügung zu stellen.
    Auch Sebastian scheint ein völlig unbegabtes Kind zu sein. Aus Mangel an Begabung hat er sich bereits aus dem Judokurs verabschiedet sowie aus der Musikschule und aus Mangel an religiösem Eifer dann auch noch aus dem Religionsunterricht. Es sind nur noch Fußball, Karate, Schach, Basketball und Schwimmkurse übrig geblieben.
    Meine Vorträge darüber, dass eine angeborene Begabung eine Chimäre ist und einen in Wirklichkeit nur Fleiß und Disziplin weiterbringen können, ganz egal in welchem Fach, diese Vorträge haben auf die Kinder keinerlei Wirkung und lassen mich in meinen eigenen Augen wie ein alter Sack aussehen, der der jüngeren Generation mit dem immer gleichen Fleiß-Blödsinn kommt.
    Mein Vater war in dieser Hinsicht nicht viel anders. Ich bin als Kind aus einem Dutzend Sportvereinen rausgeflogen, zu denen mich mein Vater in seiner manischen Sportbesessenheit geschleppt hatte. Die interne Sportsituation in unserer Familie erschwerte sich noch dadurch, dass wir neben einem olympischen Stadion am Ruderkanal wohnten. Es wurde für die Olympischen Spiele 1980 ausgebaut. Die Spiele waren von den meisten kapitalistischen Schurkenstaaten ignoriert worden, weil die Sowjetunion damals in Afghanistan die dortigen Taliban bekämpfte. Die Spiele fanden jedoch trotzdem statt.
    Wir Kinder verdienten nebenbei bemerkt bei den Olympischen Spielen drei Rubel pro Tag beim Kajak. Diese olympische Disziplin beeindruckte mich nicht zuletzt des leichten Geldes wegen mehr als alle anderen. Die olympischen Kajaks mussten am Start mit der Hand gehalten werden, damit sie gerade

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