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Salve Papa

Salve Papa

Titel: Salve Papa Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wladimir Kaminer
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habe schon Kinder gesehen mit Augen wie eine Single-Schallplatte. Das passiert, weil einem das Unerlaubte von überallher ins Auge sticht und die Vielfalt der Welt sich nie mit einer pädagogischen Maßnahme bändigen lässt.
    Einmal zeigte mein Sohn seinem Freund aus dem Kindergarten, der bei uns zu Besuch war, eine kurze Sequenz aus seinem damals von ihm heiß geliebten chinesischen Film – eine märchenhafte Geschichte über eine romantische Liebesbeziehung zwischen einer blinden Hexe und einem Zombie. Die Augen unseres Kindergartenfreundes, die auch ohne Film schon sehr groß waren, leuchteten danach wie zwei Billardkugeln im Scheinwerferlicht. Am nächsten Tag rief uns seine Mutter an. Sie erzählte, der Junge habe nach dem Besuch schlimme Albträume gehabt und die Augen überhaupt nicht mehr schließen können. Die Mutter wollte wissen, was bei uns los gewesen wäre.
    »Keine Bange«, erklärte ich ihr, »es war bloß der Film.«
    Nun darf das Kind mit unseren Kindern keine Filme mehr gucken, denn alles, was anders als Bambi aussieht, regt ihn zu sehr auf. Dabei haben wir oft auch andere Kinder zu Besuch – solche, die bei sich zu Hause im Bad Cello spielen, die sich selbst aus Waschlappen Kleider schneidern und Tapeten mit Buntstiften bemalen: die sogenannten schlitzäugigen Kinder, die Bambi für blöd halten und über Men in Black nur lachen. Ich sehe gerade für solche Kinder eine große Zukunft. Wenn sie größer sind, werden sie durch nichts mehr zu erschüttern sein, sie werden tapfer allen Ungereimtheiten der Welt entgegentreten, sich von Hexen und Zauberern nicht erschrecken lassen und alle Bambis abknallen. Sollten sie sich jemals von Gespenstern, bösen Geistern und blutrünstigen Monstern umgeben sehen, kneifen sie nur kurz die Augen zusammen, und sofort wird sich alles Dunkle der Welt vor diesem Blick fürchten und flüchten – in die Schlafzimmer der guten Kinder, die große runde Augen haben.
     

Familienweisheiten
    Die Weisheit kommt mit dem Alter, weil man Zeit braucht, um aus dem Haufen alter Vorurteile, abgebrochener Leidenschaften und nicht verstandener Bücher seine persönliche Weisheit herauszufiltern. Leider nimmt diese Weisheit fast immer eine solch bizarre Form an, dass sie für die Nachkommen verschlüsselt bleibt und nicht zur Nachahmung taugt. Trotzdem mag ich die Weisheiten alter Leute, weil sie so irrsinnig sind.
    Meine Urgroßmutter hatte es in Odessa auf das stolze Alter von neunzig Jahren gebracht. Sie war mit der Zeit klein wie ein Kind geworden, war fast blind und ans Bett gefesselt, behielt aber bis zum letzten Atemzug einen klaren Kopf. Jeden, der sich ihrem Bett näherte, bat sie, ihr die Hand zu geben. Diese Hand drückte sie mit letzter Kraft und flüsterte: »Ich bitte Sie nur um eins: Essen Sie bloß keine Pilze!«
    Mich als damals vierzehnjähriger Junge hat diese Bitte ziemlich irritiert. Wieso Pilze? Ich hätte wetten können, dass es in Odessa und Umgebung gar keine Pilze gab. Und meine Urgroßoma, die ihr ganzes Leben in dieser sonnigen Hafenstadt verbracht hatte, konnte Pilze höchstens einmal in einem Pilzratgeber gesehen haben.
    Damals zerbrach ich mir darüber den Kopf. Was wollte uns meine Urgroßmutter damit sagen? Bestimmt wollte sie auf etwas ganz anderes hinaus, wir aber, im eigenen Leichtsinn gefangen, haben ihre wahre Botschaft hinter der lächerlichen Pilzwarnung nicht verstanden. Urgroßmama kam von diesem Thema nicht mehr los. Es blieben ihre letzten Worte. Ich folge dem Rat und esse seitdem keine Pilze mehr, für alle Fälle.
    Meine andere Oma sprach lieber mit Menschen, die längst tot waren, als mit lebendigen Personen, die ständig irgendetwas von ihr wollten. Obwohl – die Toten meckerten ja auch. Einmal hatte sie ihren verstorbenen zweiten Mann im Schlaf gesehen. Er sah sie vorwurfsvoll an und meinte, sie habe ihn in schlechten Schuhen begraben. Die Schuhe drückten fürchterlich, er könne kaum darin stehen, vom Laufen ganz zu schweigen. Wie sehr würde er seine alten, gut ausgetretenen dunkelgrünen Pantoffeln hier im Jenseits vermissen!
    »Was soll ich tun?«, fragte ihn meine Oma im Traum.
    Er gab ihr eine Adresse, wo sie die Pantoffeln hinbringen sollte. Es waren völlig unbekannte Menschen, eine andere Postleitzahl und fünf Stationen mit der Bahn. Am folgenden Samstag fuhr meine Oma zu dem angegebenen Haus, in dem in der Nacht davor tatsächlich ein alter Mann gestorben war. Die Frauen des Hauses hatten nichts dagegen, dem Toten

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