Salve Papa
nachgemachten Betonstückchen von der Berliner Mauer, erotischen Postkarten, mongolischen Zeitungen, raubkopierter oder selbst gemachter Musik, belegten Brötchen, ceylonesischen Rosen und polnischen Parfüms werden dort sogar Theaterkarten und Bildbände auf der Straße angeboten. Junge Dichter vertreiben ihre im Selbstverlag erschienenen Werke, und Ostberliner Frührentner verkaufen in den Biergärten ihre mit der Hand getippten Autobiografien, die Mein Leben in der Zone oder so ähnlich heißen. In Zürich wird dagegen so gut wie nichts auf der Straße verkauft. Es ist ja auch verboten, glaube ich.
Die meisten meiner Zürcher Freunde sind mit ihrem Leben in dieser wunderbaren Stadt trotzdem unzufrieden. Bei unseren Treffen muss ich jedes Mal ihre Stadt verteidigen:
»Ihr habt doch weltweit den ersten Platz in puncto Lebensqualität – noch vor Helsinki, Vancouver, Oslo und Bagdad!«, beschwöre ich sie.
»Was für eine Lebensqualität? Davon kriegen wir hier nichts mit!«, meckern meine Freunde. »Man kann hier nirgendwo falsch parken, fremde Leute notieren dein Kennzeichen und rufen sofort bei der Polizei an. Es ist wie ein großes Dorf – hier ist einfach nichts los.«
Das ist eine groteske Situation: Die ganze Welt sehnt sich nach Schweizer Verhältnissen, die Politiker von links und rechts loben das Schweizer Modell: Wohlstand, Föderalismus, Unabhängigkeit, Neutralität … Nur die Schweizer selbst zeigen sich enttäuscht. Na ja, denke ich jedes Mal: Es gibt anscheinend kein Land auf der Welt, das die Menschen wirklich glücklich macht. Es gibt jedoch Länder, in denen man sich der Enttäuschung besonders genüsslich hingeben kann.
Meine Sicht auf die Schweiz hatte also lange vor der Einladung des Tagesanzeigers durch zahlreiche Kontakte mit den Einheimischen bereits ihre Unschuld verloren. Deswegen beschloss ich, diesmal meine ganze Familie mit nach Zürich zu nehmen. Unsere beiden Kinder – Nicole und Sebastian, damals sieben und fünf Jahre alt – waren als Weltforscher noch völlig unverbraucht. Sie waren bisher nur einmal im Nordkaukasus bei meiner Schwiegermutter und dreimal auf Mallorca gewesen. Nun sollten sie die Schweiz aus »der Sicht eines Fremden« beurteilen und mir ihre Erkenntnisse verraten. Schon die Ankündigung der bevorstehenden Reise stieß bei ihnen auf große Begeisterung. Nicole erzählte ihren Schulkameraden, bald würde sie mit ihren Eltern nach Schweden fahren, in eine Stadt namens »Zurück«. Diese geografische Verwechslung erklärte sich dadurch, dass »Schweiz« und »Schweden« auf Russisch sehr ähnlich klingen. Sebastian packte also alle seine Schwerter und einen Bogen in die elterliche Reisetasche, um uns »vor den Schweden zu schützen«. Und Nicole machte sich Sorgen, ob wir auch genug schwedisches Geld besäßen.
Am zweiten August kamen wir mit dem Nachtzug aus Berlin an. Am Tag zuvor hatten »die Schweden« ihren Nationalfeiertag begangen: die Befreiung der Schweiz durch Wilhelm Tell. Die Zeitungen berichteten ausführlich über die vielen Festreden und über die Schiller-Inszenierung am Rütli, die besonders von Rechtsradikalen besucht worden war, während die Linken mit Plakaten »Tell to Hell« durch Luzern marschiert waren. Auch dafür möchte ich die Schweiz loben, dass sie das erste und meines Wissens einzige Land der Welt ist, dessen Gründung durch den selbstlosen Einsatz eines Literaturhelden zustande kam. Davon können Robin Hood, der Hüne Ilja, Conan der Barbar oder Fantômas nur träumen.
»Siebzig Prozent der Bevölkerung waren bei der letzten Volksabstimmung gegen den Beitritt in die EU. Die Mehrheit der Schweizer ist nach wie vor sehr konservativ«, erzählten mir die Kollegen vom Tagesanzeiger. »Wilhelm Tell und das Bankgeheimnis, das sind die Mythen, auf denen dieses Land beruht.«
Ich konnte die Bedenken der Schweizer hinsichtlich der EU gut nachvollziehen. Es gibt für sie kaum einen Grund, irgendwo einzutreten. Warum ausgerechnet in die EU, wenn es doch auch ganz prima ohne geht? Draußen, in den neuen und alten Beitrittsländern, hegt man große Hoffnungen: Die einen versprechen sich von der erweiterten Union mehr Arbeitsplätze und Investitionen, die anderen mehr Gewicht in der Weltpolitik. Und alle werden früher oder später ernüchtert in die Ungewissheit steuern. Das hätte Wilhelm Tell sicher nicht gewollt.
Im Hotel Florhof fragten mich die Kinder beim Kofferauspacken: »Wer ist Wilhelm Tell?«
Ich versuchte, sie mit den
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