Salve Papa
geduldig ab.
Schon bald starb das Wunder von Spandau an Übergewicht, aber meine Tochter schrieb trotzdem weiter. Bei uns im Haus schreiben sowieso alle, außer meiner Schwiegermutter, die ihr künstlerisches Ich im Kochen und Fotografieren ausdrückt. Bald beschwerte sich meine Tochter jedoch, ihr Roman sei ihr zu verworren geraten, mit Zeitsprüngen und sehr vielen Figuren, die irgendwann auftauchen, an die sie sich als Autorin dann aber nicht mehr erinnern könne. Die Geschichte sei zu komplex, meinte sie, ein bisschen wie Krieg und Frieden, nur mit Tieren. Ob das die Leser nicht abschrecken würde, fragte sie mich und bat um Rat. Ich las zuerst alles durch. Es war kein leichter Stoff. Der Hauptheld des Romans, ein lustiges Kaninchen aus Spandau, wird Zeuge eines furchtbaren Verbrechens, kommt danach selbst in den Knast wegen eines unbewaffneten Raubüberfalls, heiratet nach seiner Entlassung eine Krankenschwester namens Nelly und fängt als Privatdetektiv in Spandau an. Nebenbei macht er noch den Steuerberater für die Berliner Mafia. Irgendwie ist er ab Seite zwei kein richtiges Kaninchen mehr. Das aber im Klartext zu schreiben, traute sich meine Tochter nicht.
»Die Verwirrung kommt daher, Liebes, dass du noch nie mit einem echten Kaninchen zusammengelebt hast«, sagte ich. »Du weißt nicht, wie sie ticken, wie sie denken und handeln.«
Damit sie die notwendigen Erfahrungen sammeln konnte, beschlossen wir sofort, im Hof unseres Hauses ein paar Kaninchen einzuquartieren. Das konnten wir natürlich nicht auf eigene Faust tun. Dazu brauchten wir die Zustimmung der Nachbarn. In einem hauseigenen Chat erläuterte ich meine Absicht, unserem Haus ein paar Kaninchen zur freien Nutzung für alle zur Verfügung zu stellen und damit die allgemeine Lebensqualität der Bewohner zu steigern. Nicht alle Nachbarn reagierten begeistert. Etliche hatten Bedenken und bestanden auf einem offiziellen Treffen. Also beriefen wir kurzfristig eine Kaninchenkonferenz auf dem Hof ein. Es war die erste und längste in einer ganzen Reihe weiterer Kaninchenkonferenzen. Sie dauerte sechs Stunden.
Erst einmal mussten die Anschaffungs- und Haltungskosten besprochen sowie die Zuständigkeiten geklärt werden. Auch die möglichen Auswirkungen der Kaninchen auf den Alltag des Hauses wurden diskutiert. Familie Ersali aus dem Parterre fühlte sich übergangen. Wie es aussah, durften nun ihre beiden Katzen Marx und Engels nicht mehr zu jeder Zeit auf den Hof gelassen werden. Familie Mayer gab zu bedenken, dass der plötzliche Tod eines Kaninchens bei den Kindern eine geistige Krise verursachen könnte. Es müsste von daher die medizinische Versorgung der Tiere gewährleistet werden.
Bei den fortlaufenden Kaninchengesprächen bildeten sich schon bald verschiedene Interessenparteien heraus, die ziemlich genau die Zusammensetzung des Deutschen Bundestages nachahmten. Unsere SPD sorgte sich in erster Linie um eine gerechte Verteilung der Arbeitsschichten bei der Pflege und Fütterung der Tiere. Die CDU erinnerte an die Sicherheit der Kaninchen und forderte sofortigen Hausarrest für Marx und Engels. Die Grünen liehen sich in der Bibliothek jede Menge Fachliteratur über Kaninchen aus und wussten bald alles besser: Man durfte den Tieren nicht mehr als hundert Gramm Futter am Tag geben. Jede zusätzliche Kalorie wäre der reinste Tierversuch, trumpften sie mit ihrem neu erworbenen Wissen auf.
Die kleine, aber feine liberale Fraktion des Hauses vertrat die These, unsere Kaninchen bräuchten gar kein Gehege und auch keine Angst vor wilden Katzen zu haben. Sie sollten frei leben, und wenn sie dann doch unter die Krallen von Marx oder Engels gerieten, dann sollten sie eben frei sterben, und wir müssten eben neue Kaninchen kaufen. Es kam aber auch Nützliches aus dieser Ecke. Die Liberale Fraktion kannte einen Tierarzt, der bereit war, unsere Kaninchen prophylaktisch zu impfen – preiswert und steuerfrei.
Nur einer aus dem Haus ließ sich von der allgemeinen Kaninchenbegeisterung nicht anstecken: der Grieche aus dem vierten Stock, der bei Schering arbeitete. Er saß schweigend neben uns, gähnte und betrachtete die Nachbarn mit einem schamlosen Lächeln, als wollte er sagen, ihr seid selber alle Kaninchen. Euch müsste man eigentlich impfen. Steuerfrei.
Am nächsten Tag wurde die Kaninchenkonferenz in der Wohnung eines Nachbarn fortgesetzt. Noch nie gab es so viel Gesprächsstoff in unserem Haus, noch nie hatten die Nachbarn so viel Zeit miteinander
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