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Salz auf unserer Haut

Salz auf unserer Haut

Titel: Salz auf unserer Haut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Benoîte Groult
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daß man den Übergang bestimmen kann? Und selbst in der Früh, Gnädigste, im Morgengrauen, wenn alles unschuldig erscheint, genügt ein Finger auf meiner Haut, selbst weit weg von den kritischen Zonen, und schon wird mein Atem ein glückseliges Stöhnen, schon vereinen sich unsere Lippen, schon fügen sich unsere Körper ineinander, schon lassen sich unsere Geschlechtsteile aufeinander ein…
Schon gut, schon gut, sagt die Anstandsdame. Sie erzählen mir immer die gleiche Geschichte. Unsäglich langweilig…
Jeden Morgen erwacht George in der Angst, der Anstandsdame könnte es in der Nacht gelungen sein, diese unreife Kindfrau zu bändigen, die niemand, außer Gauvain, je gesehen hat. Aber jeden Tag erschauert die Halbwüchsige von Raguenès unter der ersten Liebkosung dieses Mannes, der stets vor ihr wach ist und sie betrachtet, wie sie schläft; dabei muß er sich zurückhalten, um nicht sanft mit dem Finger die Spitzen ihrer Brüste zu berühren.
»Seeleute können nicht bis in die Puppen schlafen«, sagt er, um sich zu entschuldigen, wenn er die Hand nach ihr ausstreckt, und das ist das Signal für die tägliche Niederlage der Anstandsdame. Eine frohgemute Niederlage, denn sobald ihnen bewußt wird, daß sie einen neuen gemeinsamen Tag vor sich haben, werden sie von Jubel erfaßt. Unverzüglich lieben sie sich wieder, dann gleich ein zweites, wenn nicht drittes Mal und rühren sich zwischendurch kaum voneinander. Und wenn sie sich endgültig für erschöpft halten und beschließen, zuerst zu frühstücken, wirft sie eine unvorsichtige Bewegung zurück auf das Bett.
    Zum Glück verbringen sie den folgenden Tag weit weg von ihrer Hütte auf der großen Insel, und Gauvain ist nicht einer, der es wagt, im Freien mit einer Frau zu schlafen. Am Abend essen sie Fisch und Schalentiere in einem winzigen Restaurant zwischen dem Strand und der Lehmstraße. Motorengeräusche sind keine zu hören, dafür ein kleines Orchester von Einheimischen ‒ Trommeln, Geigen, Akkordeon und Triangel ‒, das seltsame Kontertänze und Quadrillen spielt, die unmittelbar dem Hof Ludwigs XIV. zu entstammen scheinen. Fünf Musiker in uneinheitlicher Kleidung, zerschlissenen Jacken oder Tropenhemden, und eine sehr alte Seychelloise im langen Rock, barfuß ‒ schöne gespreizte Füße, denen man ihre Bestimmung ansieht ‒, lassen hier unter den Latanien und den Filaos die Menuette des Sonnenkönigs wiederauferstehen. Die Frau tanzt mit der Anmut einer Marquise, nur daß sie zahnlos ist, daß ihr der schlecht gebügelte Schal über den mageren Schultern hängt, daß der Saum ihres Rockes niedergetreten ist. Aber ihr Blick ist keß und voller Humor. Schön ist sie, schön und echt wie ihre Insel. Diesen Menschen haben sie zu verdanken, daß sie für einen Abend jene Zeit erleben, als die großen Entdecker keine Generäle und noch keine Geschäftsleute waren. Sobald es mehr als zwanzig Touristen geben wird auf Praslin, wird die alte Tänzerin nach Hause geschickt und durch ein flittergrelles junges Mädchen ersetzt werden, und ein »typisches« Orchester mit elektronischen Gitarren wird sein Unwesen treiben. Heute abend sind es nur sechs Zuhörer, und ihre Tischnachbarn sind Landsleute, allerdings Franzosen ohne Gefühlsregungen, wie es scheint. Und ohne Alter. Schon jenseits. Aber wovon? Madame ist makellos: graues, zum Knoten zusammengestecktes Haar, sehr gerader Rücken, ein vornehmes, leicht kantiges, aber schönes Gesicht, obwohl es deutlich von der allzu lange praktizierten Tugend gezeichnet ist. Naturfarbenes Leinenkostüm, dazu die unvermeidlichen weißen Sandalen. Ihr Mann, vermutlich ein ehemaliger hoher Beamter der Kolonialverwaltung, flachgedrückt durch dreißig Jahre eheliche Langeweile, träumt am Tischende vor sich hin, die Nase über dem Teller. Ihre Tochter, auch sie bereits alterslos, schwarz gefärbt mit kastanienrotem Schimmer (»Das wirkt lustiger, findest du nicht?«), hat an ihrer Seite einen armen Kerl von Ehemann, der sicher in den Fußstapfen des Schwiegervaters marschiert. Die Tropen haben es nicht geschafft, ihre bürgerlichen Schildkrötenpanzer anzuknacksen. Sorgfältig untersuchen beide Frauen ihre Teller auf einheimische Bakterien, dann ziehen sie mürrisch die Augenbrauen hoch beim Anblick der Karte, auf der lediglich Fisch angeboten wird, und schließlich rufen sie die Bedienung noch einmal an den Tisch, um getoastetes Brot zu bestellen. Sie kommen von einem Ausflug ins Vallée de Mai zurück, wo sie eine

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